Jerusalem (4)

Aus dem Tal weht ein kühler Wind herauf

von Anja Liedtke

Aus dem Tal weht ein kühler Wind herauf... - Foto © Anja Liedtke

Aus dem Tal weht ein kühler Wind herauf

Erneut steige ich zum Kamm der Hügelkette, gebeugt unter intensiv duftenden Passionsfrüchten. Sie werden von Bienen italienischer Herkunft angeflogen. Zumindest hat mir Meir Schwarz erzählt, Israel habe nach dem Sechs-Tage-Krieg keine eigenen Honigsammler mehr besessen. Die Araber hatten ihre Äcker zurückgelassen, die Erdkruste hatte sich verhärtet, war überschwemmt worden, trocknete wieder, brach auf. Zwischen die gebrochenen Schollen legten Hornissen Eier, die alle schlüpften, weil niemand pflügte. Die zahlreichen Hornissen fraßen die Bienen. Die verbliebenen Felder und Obstplantagen wurden nicht bestäubt. Das war schlimmer, als daß es keinen Honig gab. Bienen mußten eingeflogen werden.
Ob die Biene, die vor der italienischen die Blüten Israels bestäubt hatte, eine Ureinwohnerin gewesen war, ist fraglich, seit Archäologen belegen, daß 1000 Jahre vor Christus anatolische Honigproduzenten über den Handelsweg eingeführt worden waren.
 

Granatapfel - Foto © Anja Liedtke
Auf dem Hügelkamm krieche ich unter den duftenden Bäumen hervor. Aus dem Tal weht ein kühler Wind herauf und trocknet den Schweiß. Ich wandere bis auf den vielbefahrenen Herzlberg, um von dort nach Ein Karem abzusteigen. Auf der Hügelspitze liegt Yad Vashem. Unter dem Gebäude verläuft ein Wanderweg, der das Gegenteil des Grauens zu sein scheint, das oben gezeigt wird, denn er ist voller Leben. In ihrer drolligen Art rennen braune Steinhühner mit schwarzen und weißen Rallystreifen kreuz und quer über den steilen Staub- und Steinpfad und geben lustige Geräusche von sich, wenn sie unter den Zedern die Köpfe einziehen und verschwinden.
Ich denke an die Turteltaubenküken. Sie setzten Flaum an. Weiße Flugfedern wachsen. Die Elterntiere finden kaum noch Platz, auf den Kindern zu sitzen. Öfter und länger bleiben sie aus und lassen die Küken allein schlafen.

Der 28er-Mercedesbus der Gesellschaft Egged fährt oberhalb vorbei, ich hätte fahren können. Und ich denke, das hätte ich tun sollen, als ich den ockerfarbenen Geröllweg zwischen Mimosen und Ginster einsehen kann. Denn alle zig Meter wartet ein junger Soldat.
»Verdammt«, sagte ich leise, »was ist hier los. Wärste besser ...»
Einer der Jungs steht grün getarnt in einer Gruppe Pinien. Er muß mich gehört haben. Die nächsten grüßen freundlich. Mit Erreichen des Talgrundes verschwinden die am Wege Stehenden. Dafür sehe ich etwas Kleines, das sich reger bewegt als die Militärs. Die Bewegung fängt meinen Blick sogleich ein. Dabei ragt das am Wegesrand nicht höher auf als ein dicker Stein. Bald komme ich nahe genug, um an den vier Beinen ein Lebewesen zu erkennen, da renne ich schon hin. Denn sind die Körperteile als solche erst erkannt, zeigt sich gleich, um wessen Gliedmaßen es sich handelt, und von dort ist es ein Gedankenhüpfer, um zu wissen, daß solche Beine nicht in der Luft strampeln dürfen.

 
Gerettet! Tunesische Landschildkröte (Testudo graeca nabeulensis) - Foto © Anja Liedtke

Ich drehe das Tier rasch um, setze es ins Gras und bleibe eine Weile bei ihm stehen, um zu sehen, ob es noch einmal aus dem Panzer herausschaut. Die Schildkröte atmet schnell, wie ich sehe, als sie die Extremitäten um ein Weniges herausstreckt. Am Schild verläuft eine feuchte Spur. Sie muß Angst ausgestanden haben, möglicherweise eine Form von Wissen um den bevorstehenden Tod, denn sie hat in die Schale ihres Hornes uriniert, bis diese übergelaufen war. Jetzt beruhigt sie sich allmählich und beginnt in das tiefere Gras mit den sternförmigen Spitzen zu laufen.
Ich schaue mir den Platz an, an dem sie gelegen hat. Die herumliegenden Steine sind nicht hoch genug, als daß die Kröte Schlagseite hätte bekommen können, wenn sie mit einem Vorder- und einem Hinterbein hinaufgeklettert wäre. Und das ist die einzige Möglichkeit, die ich konstruieren kann. Fielen Schildkröten derart leicht um, gehörten sie bestimmt nicht zu den ältesten Arten unseres Planeten. Da hat jemand nachgeholfen.
Ich trample auf den Pfad, daß der Staub aufstiebt und eine kleine schwarze Schlange erschrocken davoneilt. Auch die kleinen gelben sind giftig, nicht jedoch die großen Schwarzen, die, so erzählte mir Meir Schwarz, früher gern als Wachpersonal im Vorgarten gehalten wurden. Denn sie sind zwar harmlos, klappern aber, wenn Besuch kommt.
Heute gibt es kaum noch Schlangen. Entweder sind sie getötet worden oder der Lärm und das permanente Vibrieren des Bodens, in den die Baumaschinen bohren, über den die Fahrzeuge rasen, hat sie vertrieben. Daher wissen die Kinder nicht mehr, daß kleine Schlangen gefährlich sind, große jedoch ungiftig.
 
Ich eile auf die Straße in der Ahnung, meinen beiden Turteltaubenküken drohe Gefahr. Nicht von unten, nicht von Schlangen oder den vielen Katzen, die sich aus den Containern ernähren und von den Nachbarn gefüttert werden, sondern von oben, vom Baum der großen schwarzen Schoten. Da sitzt ein Eichelhäher dicht vor der Taube, greift unter ihren Bauch und holt sich ein Stückchen Haut vom Küken. Ein Bülbül hockt dabei und schreit. Das Muttertier bleibt tapfer sitzen, obwohl ihr Herz sichtlich im rotbraunen Hals pocht und sie den Schnabel aufreißt, um Luft zu schnappen. Schreiend renne ich in die Küche und fuchtle vor dem Fenster. Ich greife ein Kissen, laufe auf die Terrasse und werfe das Kissen nach dem Häher. Der fliegt ohne Beute davon. Der Bülbül begleitet ihn.


Taubennest - Foto © Anja Liedtke

 
Am Morgen zupft der Vater an dem glänzend Roten und trägt das Gedärm aus dem Nest. Es hat keinen Sinn mehr, die Haut zu wärmen, die sich nicht bewegt. Sie nimmt dem wachsenden zweiten Küken den Platz weg. Ich wage kaum das Haus zu verlassen, um zur Arbeit zu fahren. Am Abend ruft mich mein Mitbewohner im Nachthemd aus dem Zimmer in die Küche und zeigt stumm auf den Eichelhäher und das leere Nest. Der Häher steigt mit leerem Schnabel auf und fliegt davon. Ich renne auf die Terrasse, auf Flipflops die Treppe hinunter. Forsche vorsichtig im dichten trockenen Gras. Schaue auf, suche die direkte Falllinie vom Nest aus. Und finde grauen Flaum im Dorngebüsch auf zwei Meter Höhe. Ich laufe die Stufen hinauf, hole den Klappstuhl, stelle ihn in das unebene Stroh, klettere in die Dornen und pflücke den halbfertigen Vogel vom Ast. Seine Füße lassen nicht los, ich muß jede Kralle einzeln aufbiegen, ohne mich festhalten zu können. Einhändig hinuntersteigen muß ich und mir den Kopf zerzausen lassen von Dornen, doch den Vogel triumphierend zwischen den Fingern, aus denen Flügel und Füße ragen. Ich stecke das Hautige ins Nest zurück und hoffe, daß die Eltern wiederkommen, während ich einen winzigen Blutstropfen von der Hand wasche.
Die Spatzen suchen ihren Schlafplatz auf. Ich krieche ins Bett.
Am Morgen wache ich von einer Diskussion unter grünen Finken und Papageien, schwarzen Amseln, bunten Spechten und braunen Bülbüls auf. Ich taumle in die Küche, nicke der Turteltaube zu und koche Kaffee. Die rotbraun Schillernde scheint zurückzunicken und zu glauben, für die nächsten vier Stunden werde ich auf das Kleine aufpassen, denn langsam bereitet sie sich durch Herumgehen auf den Gitterstäben auf den Abflug vor. Das Küken ist es nun, das mich beim Spülen beobachtet. Manchmal schläft es dabei ein. Ein anderes Mal animiert meine Arbeit das Halbstarke, auf den Eisenstäben herumzuklettern und die Flügel zu bewegen, wenn es schwankt und droht, das Gleichgewicht zu verlieren.


Succulentus - Foto © Anja Liedtke

Eines Tages komme ich aus dem Institut und es ist fort. Ich lasse die Tasche fallen, renne auf die Terrasse, auf Stöckelschuhen in den Garten, passe auf, daß ich mit den Stöckeln nicht das Küken aufspieße. Drehe alle Grashalme um, kontrolliere jeden Ast. Ich rede mir ein, es ist flügge geworden und öffne eine Flasche Wein. Die Abende sind endlich lau, die Morgende warm, ich fühle mich einsam.
Da höre ich das Gurren. Sanft, lockend, dringlich. Vom Feigenbaum her. Und vom schmalen Vordach über dem Küchenfenster. Dort schimmern Krallen durch das gelbe Plastik. Der schillernde rotbraune Hals beugt sich über den Rand hinab, die Knopfaugen mustern mich. Ich lache sie an. Das andere Tier hüpft auf die Gitterstäbe und geht die Fensterbank entlang. Sie suchen ihr Kind.
Zeigen mir, daß es nicht flügge geworden ist. Sie stehlen mir die Möglichkeit, mich zu betrügen.

 
© Anja Liedtke