Ende des Traums vom menschlichen Sozialismus in Prag

Truppen des Warschauer Paktes besetzten am 21. August 1968 die Tschechoslowakei

von Jürgen Koller

Sowjet-Panzer in Prag auf dem Altstädter Ring, 1968 - Foto © Alexander Alekseev  4 ALDOR46

Ende des Traums vom menschlichen Sozialismus in Prag
 
Truppen des Warschauer Paktes besetzten am 21. August 1968 die Tschechoslowakei
 
Von Jürgen Koller
 
Im Spät-Frühjahr und im Sommer des Jahres 1968 spürten die Menschen in der DDR, besonders in Sachsen, daß politische und militärische Entscheidungen von großer Tragweite bevorstehen würden. Niemand wußte etwas Genaueres, aber es lag etwas in der Luft – die SED-Zeitungen und das Ost-Fernsehen hüllten sich in übliches Schweigen, die West-Medien äußerten Vermutungen, aber letztlich ging es über Kaffeesatz-Leserei auch nicht hinaus. Natürlich war durchgesickert, daß in der CSSR der Slowake Alexander Dubček Parteichef der Kommunisten geworden war und politische Reformen von beachtlicher Tragweite eingeleitet hatte. Aber kaum jemand brachte die neue Politik jenseits des Erzgebirges mit militärischen Aktionen der Sowjets in Verbindung, wußte man doch, daß ein großes Kontingent Sowjet-Truppen ständig auf dem Territorium der DDR stationiert war. Vor allem in den Verwaltungs-Bezirken Dresden und Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) waren auffällig viele sowjetische Militärtransporte auf Schienen und Straßen beobachtet worden. Man glaubte an Manöver, die regelmäßig durchgeführt wurden.
 
Der Autor dieser Zeilen kann sich noch gut an die wie elektrisch aufgeladene Atmosphäre dieser Wochen erinnern, lebte er doch damals in einer kleinen sächsischen Stadt, gelegen zwischen Zwickau und Karl-Marx-Stadt. Die Bevölkerung sprach hinter vorgehaltener Hand von einem großen, stark gesicherten Truppenlager in einem Wald in der Nähe von Zwickau. Es wurden aber wochenlang keine Bewegungen von Sowjetmilitärs im Großraum um Zwickau gesehen, nur ab und an flog ein Hubschrauber über Land und Tanklaster der Sowjets wurden an geheimen Hydranten mit Trinkwasser gefüllt. Einen Kontakt seitens der sowjetischen Militärs mit örtlichen Behörden oder gar der Bevölkerung hatte es nicht gegeben.
 
Und dann war plötzlich nichts mehr geheim – am frühen Morgen des 20. August dröhnten schwere Motoren, klirrten Panzerketten von dutzenden Panzern, Geschützen auf Selbstfahrlafetten, Raketentransportern, rollten Schützenpanzer und jede Menge LKW über das alte Granitpflaster der Stadt Lichtenstein, an den Flanken der Fahrzeuge war das Emblem einer Garde-Division zu sehen. Die Menschen blieben verschreckt in ihren Häusern, zumal der Bus-Verkehr eingestellt worden war. Die Stadt war in stinkenden, blau-grauen Abgasnebel der unendlich langen Kolonne eingehüllt. Es war für den Autor, dessen Zeit als SPW-Fahrer bei der NVA noch nicht lange zurück lag, trotz allem ein Spektakel, das er sich nicht entgehen lassen wollte. Er postierte sich am Stadtrand an einer Spitzkehre mit kräftigem Anstieg. Es war erschreckend mit anzusehen, wie die jungen, unerfahrenen Panzermänner in der Kehre stecken blieben, die Kettenfahrzeuge sich quer stellten und dabei die Pflasterstraße zermöllerten. Ein wutschnaubender, brüllender Oberst setzte sich selbst in einen der steckengebliebenen Panzer, nicht ohne vorher dem jungen Panzerfahrer noch eine Ohrfeige gegeben zu haben, um danach das schwere Kettenfahrzeug wieder auszurichten und die Spitzkehre zu bewältigen. Das Durcheinander der dicht aufgefahrenen Panzer wurde noch dadurch verstärkt, weil gefechtsmäßig mit der Kanone nach vorn gefahren wurde, als ob der Feind hinter jedem Waldsaum stecken würde. Nach einer Stunde war das Spektakel vorbei - die Kolonne war Richtung Grenze zur CSSR verschwunden. Die alte Fernverkehrsstraße sah gräßlich aus, im Stadtzentrum war ein Hauptsammler eingedrückt worden, Bachwasser und Kloake bildeten stadtmittig einen stinkenden Teich. Soweit eine im Gedächtnis gebliebene Episode von vor 50 Jahren...


Widerstand in Prag bei der Sowietischen Invasion der Tschechoslowakei 1964 - Foto: The Central Intelligence Agency / Flickr

In der Nacht zum 21. August 1968 fiel etwa eine halbe Million Soldaten der Sowjetunion, Polens, Ungarns und Bulgariens in die Tschechoslowakei ein und besetzten handstreichartig innerhalb weniger Stunden alle strategisch wichtigen Positionen des Landes. Luftlandetruppen der Sowjets eroberten als erstes den Prager Flughafen. Rumänien beteiligte sich demonstrativ nicht an der Invasion. Die Nationale Volksarmee der DDR, sehr zum Ärger von Walter Ulbricht, nahm nicht teil, obwohl an der Grenze zur CSSR zwei NVA-Divisionen (Panzer und Mot.-Schützen) in Bereitschaft standen. Moskau hatte nur Stunden zuvor entschieden, auf die NVA zu verzichten. Man wollte wohl im 30. Jahr des berüchtigten Münchner Abkommens der Bevölkerung der Tschechoslowakei den erneuten Anblick einer 'deutschen Wehrmacht' ersparen. Nur 30 Soldaten einer NVA- Nachrichteneinheit waren im Führungsstab der Invasionstruppen auf dem Truppenübungsplatz Milovice eingesetzt. Beim Einmarsch starben 98 Tschechen und Slowaken sowie etwa 50 Soldaten der Invasionstruppen. Staatspräsident Ludvik Svoboda forderte die Bevölkerung und das eigene Militär in einer Radioansprache auf, Ruhe zu bewahren und die Invasionstruppen nicht anzugreifen. Trotzdem kam es zu kleineren Schießereien und Sabotageakten. Besonders die Eisenbahner der Staatsbahn behinderten in den folgenden Tagen die Invasoren, weil sie immer wieder Militärtransporte auf Abstellgleise dirigierten. Die Angst der Invasoren vor Angriffen auf das Leben ihrer Soldaten führte dazu, daß die Sowjets in Böhmen Trinkwasser aus der angrenzenden DDR holten. Dem Haß der Tschechen und Slowaken auf die Invasoren, besonders auf die Russen in Prag, waren die jungen Sowjetsoldaten, meistens Wehrpflichtige, nicht gewachsen. Sie konnten nicht verstehen, warum Benzinbomben auf ihre Panzer geworfen wurden, waren sie doch, so die ideologische Indoktrination seitens ihrer Offiziere, den slawischen Völkern der Tschechen und Slowaken zu Hilfe geeilt, um die Errungenschaften des Sozialismus zu verteidigen. Schon wenige Tage nach der Invasion wurden deshalb Tausende junge Soldaten gegen erfahrene Kriegsveteranen ausgetauscht. Diese bärtigen alten Männer, vorwiegend Unteroffiziersdienstgrade, wurden besonders aus Fabriken Sibiriens von den Werkbänken weggeholt und in die CSSR geschickt, galten doch gerade die Sibirier als 'harte Hunde'.


Alexander Dubcek im September 1968 - Foto: National Archives (Zari68)

Warum aber wurden die Reformen, die Dubĉek eingeleitet hatte, so brutal bekämpft? Die neue Führung der kommunistischen Partei hatte erkannt, daß der Mißwirtschaft im Lande nur Einhalt geboten werden konnte, wenn es zu ernsthaften Wirtschaftsreformen käme, etwa zu einer Konkurrenz zwischen den Betrieben untereinander, daß es privater Unternehmen bedürfe, um Waren des täglichen Bedarfs zu produzieren, daß die Bevölkerung, besonders die Intellektuellen („Manifest der 2000 Worte“), nach einer pluralistischen Gesellschaft mit freien Medien, Kultur und Wissenschaft sowie freien politischen Vereinigungen verlangten und daß dem absoluten Primat der Kommunistischen Partei Grenzen gesetzt werden müsse. Auch sollten die Benachteiligungen der slowakischen Volksgruppe zu Gunsten einer gleichberechtigten Parität beider Völker der CSSR beseitigt werden. Es sollte eine „sozialistische Gesellschaft mit menschlichem Antlitz“ geschaffen werden – von einer Beseitigung des Volkseigentums an Produktionsmitteln und der Bodenreform war keine Rede, ein reformierter, demokratischer Sozialismus blieb unter Dubĉek Ziel der Partei.


Truppenbesuch von Generalleutnant Siegfried Weiß bei den NVA-Truppen, welche zum Einmarsch in die Tschechoslowakei (Prager Frühling) bereitgestellt waren.
Soldaten tragen Felduniform mit altem Flächentarnmuster - Foto: (Bundesarchiv)

Ideologische Grundlage und Rechtfertigungsgrund der Invasion war die sogenannte „Breschnew-Doktrin“, die davon ausging, daß die sozialistischen Staaten nur eine „beschränkte Souveränität“ hätten und daß sich daraus das Recht ableite, einzugreifen, wenn in einem dieser Staaten der Sozialismus bedroht sei. Das Recht zum Eingriff sollte allein der Sowjetunion vorbehalten sein. Erst unter Gorbatschow wurde diese Doktrin abgeschafft - das Nicht-Eingreifen der Sowjets im November 1989 in Ost-Berlin bzw. in der DDR belegt das.
Mit der Entmachtung Dubĉeks (er fristete nach 1968 als Hilfsarbeiter sein Leben) und der Einsetzung des linientreuen Gustáv Husák als Parteichef fand der „Prager Frühling“ sein Ende – fast alle Reformen wurden zurückgenommen. Übrigens ist „Prager Frühling“ eine Wortschöpfung des Westens, gedanklich eine Weiterführung von Ilja Ehrenburgs Roman „Tauwetter“, der Abrechnung mit dem Stalinismus. Noch zu erwähnen ist die Rolle der Bundesrepublik Österreich in dieser Krise. Trotz des Verbotes von Außenminister Kurt Waldheim stellte der damalige österreichische Botschafter in Prag, Rudolf Kirchschläger, Visa für Österreich aus. In der Folge kamen 162.000 Flüchtlinge aus der CSSR nach Österreich, von denen aber nur 12.000 auch um Asyl nachsuchten. Obwohl zur Neutralität verpflichtet, versorgte der unabhängige ORF, der bestens informiert war, auch andere westliche Medien mit aktuellen Meldungen. Darüber beschwerte sich erbost der Sowjetbotschafter in Wien - es kam seinerzeit zu schwerwiegenden Konfrontationen zwischen der Regierung Österreichs und dem ORF wegen der Verletzung dieses Neutralitätsgebotes.
 
 
© 2018 Jürgen Koller
 
 

Redaktion: Frank Becker