Ein peinliches Hoch aufs Prekariat

Will Gmehling / Jens Rassmus (Illustrationen) – „Chlodwig“

von Frank Becker

Ein Hoch aufs Prekariat!
 
Will Gmehlings Jungengeschichte ist peinlich.
 
Eigentlich ist das vom Thema und der Idee her eine hübsche Geschichte. Eine Geschichte mit bunten Charakteren, mit viel Tohuwabohu, mit Degenhardtscher Oberstadt und Unterstadt und mit der Überbrückung sozialer Herkünfte. Eigentlich.

Der wohlerzogene, ordentliche und höfliche Chlodwig aus abgesicherten, geordneten Verhältnissen (Vater: Zahnarzt, Mutter: Architektin) der neu in die Stadt kommt und in der Schule neben den ruppigen, ungepflegten Bert gesetzt wird, befreundet sich mit dem neuen Klassenkameraden, der als  Sproß einer proletarischen Familie (Vater: Tellerwäscher, Mutter: Putzfrau) die Geschichte erzählt. Da treffen Welten aufeinander, aus deren Berührung eine schöne Jugenderzählung entstehen könnte. Doch es stößt schon von Beginn an äußerst unangenehm auf, wie oft und mit welch genüßlicher Betonung der Autor seinen Erzähler fast stolz darauf sein läßt, wie unaufgeräumt, schmuddelig, ja dreckig, unhygienisch und schlampig es bei ihm zu Hause zugeht. Zitat:
„Bei uns war es immer so: Wenn man aus dem vollgeschmierten Treppenhaus in die Wohnung kam und durch den Flur ging, stolperte man garantiert über Spielzeugautos oder eine von Mimmis Puppen. Jacken, Schals und Schulranzen lagen auf dem Boden, wir ließen sie einfach fallen, wenn wir am Nachmittag nach Hause kamen. In der Küche stapelte sich das schmutzige Geschirr, und der Herd sah eklig aus, weil Mama andauernd die Milch überlaufen ließ. Im Wohnzimmer war es nicht besser - und von den beiden Kinderzimmern schweige ich lieber. Unsere Wohnung war so unaufgeräumt, dass es wehtat. Zumindest den paar Leuten, die sich zu uns trauten, tat es weh. Uns nicht. Wir kannten es ja nicht anders. Wir waren zu sechst, Mama, Papa, meine drei Geschwister und ich. Wir, die Familie Zack aus dem achten Stock. Uns kannte jeder. (…)
Bei uns war es immer so: Manchmal wurde der Strom abgestellt, weil wir die Rechnung nicht bezahlt hatten. Oder die Heizung ging nicht mehr. Manchmal stand jemand vor der Tür und wollte Geld. Andauernd mussten Mama oder Papa wegen uns in die Schule oder in den Kindergarten, weil wieder was passiert war: Ich hatte Jannis die Nase eingeschlagen oder Eddie schlief im Unterricht ein oder Miezi hatte geschwänzt oder Mimmi hatte wieder mal kein Frühstücksbrot dabei. Einmal hatten wir drei Monate hintereinander die Miete nicht bezahlt und bekamen deshalb extremen Ärger. So war es bei uns.“
 
Chlodwig schließt sich Bert dennoch vorurteilsfrei an und wir bald Dauergast in der Wohnung der Familie Zack, bei der er sich scheinbar wohler fühlt als im eigenen Zuhause. Ja, er verwildert sogar zusehends. Spätestens da ist bei mir Schluß, erscheint doch diese Veränderung, gemessen am Gesamtkontext, höchst unglaubhaft. Gut, es ist nur eine Geschichte, doch die Lebenserfahrung lehrt uns, daß eine solche Entwicklung unter den Augen eines wenn auch überbeschäftigten Elternpaares und einer aufmerksamen Hausdame wohl kaum möglich ist. Und freiwillig vom gepflegten Jungen zum Dreckspatz werden? Wohl kaum.
Will Gmehlings Geschichte wirkt allzu gewollt, aufgesetzt, anbiedernd und getrimmt, als daß sie auch nur ein wenig akzeptabel sein könnte. Das dauernde klischeebeladene Heraushängenlassen des Prekariats wirkt nachgerade peinlich, und so lieb und nett die Zacks im Buch auch sein mögen und mit Liebe vieles ausgleichen, sind sie doch wirklich kein empfehlenswertes Beispiel für eine Lebensführung. Arm sein ist gewiß keine Schande. Dreck und Speck zur Maxime zu erheben schon.
Sollte Will Gmehling gar einen pädagogischen Ansatz versucht haben, wäre ihm der gründlich mißlungen. Ich kann dieses vom Autor/Verlag für Kinder ab 7 Jahren (!) gedachte Buch keinesfalls empfehlen.
 
Will Gmehling / Jens Rassmus (Illustrationen) – „Chlodwig“
Eine Erzählung für Kinder ab 7 Jahren
© 2018 Peter Hammer Verlag, 48 Seiten, gebunden, ISBN: 978-3-7795-0600-3
14,00 € (D)
 
Weitere Informationen: www.peter-hammer-verlag.de