Seh-Reise (28)

Achtundzwanzigste Ausfahrt: Friedrich Wilhelm Kleukens

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (28)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
28. Ausfahrt: Friedrich Wilhelm Kleukens

Diesmal hat mir die visuelle Beikost in meiner Küche wenig Appetit gemacht. Während die tiefstehende Sonne draußen den Raum mit hellem Licht überschwemmte, rang das Bild der Woche in seinem Holzrähmchen um Atem. Da war etwas längst an Grab und Gruft verfallen. Luft! hätte ich schreien mögen beim täglichen Hinschauen. Das Fenster aufreißen. Aber wohin? Was hätte sich öffnen sollen?
Dabei ist das Mosaik des „Hochzeitsturmes“ auf der Darmstädter Mathildenhöhe gefällig ausgeführt. Und doch war es auch diesmal wie nach meinen leibhaftigen Besuchen dort: Jedes Mal steige ich mit gespaltenen Gefühlen von dem Hügel hinab in die Stadt. Durchaus sympathisch berührt. Nur: Der Magen bleibt leer.
Es ist eine so schöne Idee gewesen, die ein süddeutscher Kleinfürst damals sich einfallen ließ, zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts, der Götterdämmerung seines Standes: Die „Schönen Künste“ noch einmal Hof halten zu lassen an seinem Höfchen. Die politische und wirtschaftliche Kraft war vom Adel tatsächlich längst in andere Hände übergegangen. Lediglich im Bereich der Kunst, im Windschatten der gesellschaftlich mächtigen Bewegungen, schien noch Handlungsspielraum offen für einen Fürsten in diesen Tagen des Umbruchs.
Der Großherzog Ernst Ludwig (sein bayrischer Namensvetter schlummerte schon eine Weile im kühlen See) gründete 1899 eine „Künstlerkolonie“ in seinem zerbröckelnden Herrschaftsgebiet. Hier, im Reich des Schönen, ließe sich schalten und walten, in der angestammten Art. Und die Künstler mußten sich zu einem solchen Angebot nicht zweimal bitten lassen. Ateliers und Wohnhäuser entstanden, Ausstellungsträume. Allesamt haben sie bis heute ihre Funktion und ihren ästhetischen Wert behauptet.



Friedrich Wilhelm Kleukens, Allegorie der Liebe - Foto: Jean-Pierre Dalbéra

Und dann war die Hochzeit des Großherzogs zu feiern, mit einer hochgeborenen Prinzessin, im Jahr 1905. Die Gruppe der Künstler, die der Herzog an sich gezogen hatte, löste sich bereits wieder auf, es lockten weiterreichende Aufgaben in einer zukünftigeren Welt. Gerade da sollte noch einmal ein Zeichen gesetzt sein. Ein Hochzeitsturm, hoch und breit! Die Stadt, das ganze Herzogtum überragend. Fanal eines Aufbruchs, der schon, von der Grundsteinlegung an, zu einem Monument des Abschieds wurde.
Natürlich mußte der schöne Schein des Turms auch innen gewahrt werden, die Leere der funktionsfreien Räume war zu füllen. Jetzt schlug die Stunde der Dekorateure. Friedrich Wilhelm Kleukens hieß der Maler, der zum hochzeitlichen Anlaß im Erdgeschoß das Gewölbe mit einem Mosaik verzierte, wie aus einem Katalog der Kunstgeschichte. Lang ausgestreckt die nackten Leiber zweier Menschen, Mann und Frau, auf Blumen gebettet vor blauem Grund. Umarmen einander, küssen sich, in bildnerischer Wortwörtlichkeit. Als Symbol des geweihten Aktes wachsen ihnen zwei Flügel aus dem Rücken und vereinigen sich in peinlich genau ausgeführter Berührung, von Blüten umflirrt. Darüber der goldene Bogen als Übergang ins Jenseits des bestirnten Himmels.
Die Hochzeit zweier herausgehobener Menschen, die Vermählung von Himmel und Erden: Es ist alles da im Bild, wirklich alles, und mehrfach. In einem Schrein der Erinnerung werden die jahrhundertelang benutzten Symbole noch einmal aufgerufen und säuberlich durchgespielt.
Das Leben wies längst in eine andere Richtung. Da wehte die rauhere Luft der eigenen Zeit.
Am Mittag dieser morgendlichen Niederschrift stoße ich in der Stadt bei einem Bukinisten auf den schmalen Roman von Vicky Baum, der posthum, aus dem Nachlaß, herausgegeben worden ist: „Verpfändetes Leben“. In der biografischen Notiz zur Autorin heißt es, Vicky Baum sei als sehr junges Mädchen, mit Achtzehn, nach Darmstadt an den großherzoglichen Hof Ernst Ludwigs gerufen worden – als Harfenistin seines Orchesters. Das war 1916, mitten im Ersten Weltkrieg. Hochzeiten gab es keine mehr zu feiern. Einen Wimpernschlag später wurde die dynastische Staatsform in Deutschland endgültig zu Grabe getragen, intoniert von Harfe und Schalmei.
 
Friedrich Wilhelm Kleukens, Allegorie der Liebe, 1908/10. Mosaik im Hochzeitsturm, Darmstadt

 
Redaktion: Frank Becker