Kunstsommer 2018 im Kirchner Museum Davos

Das Kirchner Museum präsentiert seit 3. Juni zeitgleich vier Ausstellungen

von Jürgen Koller

Ernst Ludwig Kirchner (1880 -1938), Sieger im Wettlauf, 1926/27 Feder
in Tusche, © Kirchner Museum Davos
Kunstsommer 2018
im Kirchner Museum Davos
 
Das Kirchner Museum präsentiert
gleichzeitig vier Ausstellungen
 
Davos ist und bleibt eine Stadt des Winters und des Wintersports – doch für die Sommertouristen, die sich an der Davoser Bergwelt erfreuen wollen, hat das Kirchner Museum in diesem Jahr vier Ausstellungen eingerichtet, die wahrlich mehr sind als ein Lückenfüller für schlechtes Wanderwetter. Vier Ausstellungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, aber doch zugleich den Anspruch untermauern, daß das Museum zum einen getragen wird vom Werk Ernst Ludwig Kirchners, zum anderen erneut belegt, daß dieses namhafte Haus offen ist für alle Äußerungen zeitgenössischer Kunst.
 
„Ich gehe von der Bewegung aus“ titelt die Präsentation, die Ernst Ludwig Kirchner gewidmet ist. Der nackte menschliche Körper ist ein Hauptmotiv im Werk Kirchners – er stellt Anmut, Schönheit und Erotik seiner weiblichen Modelle in das Zentrum seiner Kunst, Natürlichkeit und Sinnlichkeit des Lebens statt künstlischer-akademischer Posen. Und dieses Leben suchte und fand Kirchner an den Rändern der bürgerlichen Gesellschaft in Cafés, Theatern, Tanzsalons, Varietés und Animierkneipen, aber auch in der Natur – am Seeufer, am Meeressaum und später im Hochgebirge, wo er in einer befreiten Körperlichkeit das neue Lebensgefühl entdeckte.
Kirchner war 'der' Künstler seiner Zeit, der sich intensiv mit dem Thema Tanz und der rhythmischen Bewegung befaßte. Beides sah er als Metapher für Sexualität, für das Verhältnis der Geschlechter und für die Kunst im Allgemeinen. Auch bei der Darstellung verschiedener Sportarten wie Bogenschießen, Skispringen, Radrennen, Ringen, Tennis oder Wettläufe ging es ihm stets um das Nachspüren von Bewegungen. Sein Bemühen, einen dynamischen Prozess spannungsreich in einen entscheidenden Augenblick zu verdichten, wird besonders treffend in der spontan-gestischen Zeichnung „Sieger im Wettlauf“ (1926/27) deutlich. Mit wenigen Strichen wird in der Mimik und Gestik des Läufers Qual, Erschöpfung und Siegesfreude erfaßt.
 

Wilhelm Lehmbruck (1881-1919), Kopf der „Großen Knienden“, 1911 © Kirchner Museum, Stephan Bösch

„Provenienzforschung zur Stiftung Baumgart-Möller“ heißt die spannende Historie über das bedeutende Konvolut von 42 Kunstwerken aus dem Nachlaß von Rosemarie und Konrad Baumgart-Möller. Die Schenkung aus dem Jahre 2000 steht im Gedenken an den deutschen Kunsthändler Ferdinand Möller (1882–1956) und zeugt von dessen frühen Engagement für avantgardistische Kunstrichtungen. Möller gehörte zu den vier Kunsthändlern, die im Nachgang der NS-Aktion „Entartete Kunst“ von 1937 den Auftrag hatten, die aus deutschem Museumsbesitz beschlagnahmten avantgardistischen Kunstwerke für den NS-Staat zu „verwerten“. Möller erwarb über 800 Werke durch den Kauf gegen US-Devisen oder im Tausch gegen systemkonforme Kunst. Erstmalig wurde in den Jahren 2016/17 mit Unterstützung des Schweizer Bundesamtes für Kultur eine systematische Provenienzforschung im Kirchner Museum Davos durchgeführt. Bei den Werken aus der Stiftung Baumgart-Möller war davon auszugehen, daß mit erhöhter Wahrscheinlichkeit von einer Verbindung mit der Beschlagnahme und „Verwertung“ von Privat- und Museumsbesitz während der NS-Herrschaft auszugehen sei. Die Recherche ergab, daß bei 16 Werken die Provenienz vollständig geklärt und unbedenklich ist. Bei 19 Werken sind die Herkunftsangaben zwischen 1933 und 1945 weiterhin lückenhaft, aber es gibt keine Hinweise auf Raubkunstverdacht. Bei einem Werk kann ein verfolgungsbedingter Verlust nicht ausgeschlossen werden, die Provenienz wird weiter untersucht. Die Werke der Stiftung Baumgart-Möller werden nahezu komplett ausgestellt. Nicht immer sind Restitutionsfälle so klar und eindeutig wie etwa bei Otto Muellers „Knabe vor zwei stehenden und einem sitzenden Mädchen“ (1918/19), das Henri Nannen für die Kunsthalle Emden erworben hatte und aus dem Besitz der Berliner Nationalgalerie stammen sollte. Das Werk wurde1999 restituiert und konnte von den rechtmäßigen Erben für Emden zurückgekauft werden.


Max Liebermann Nähschule im Waisenhaus 1876 - Foto © Frank Becker

Aus der Schweiz ist die Restitution von Max Liebermanns „Nähschule im Waisenhaus“ bekannt. Der Anspruch der Rückgabe ging an das Bündner Kunstmuseum Chur (ehemals Sammlung Max Silberberg). 1999 wurde das Gemälde restituiert und ist heute im Besitz des Van-der-Heydt-Museums Wuppertal. Dagegen steht Ernst Ludwig Kirchners berühmtes Bild „Berliner Straßenszene“, das 26 Jahre im Bestand des Brücke-Museums Berlin war und nach einem strittigen Verfahren 2006 an die Erben zurückgegeben wurde, wieder im Rampenlicht. In der KUNSTZEITUNG von Lindinger + Schmidt, Juni 2018, spricht Dorthee Baer-Bogenschütz die fragwürdige Restitution des Kirchner Bildes erneut an und verweist auf die Dokumentation „Erworben- Besessen - Vertan“ von Ludwig von Pufendorf (Vorsitzender des Förderkreises des Brücke - Museums e.V. und ehemaliger Kulturstaatssekretär). Die Dokumentation soll in Kürze im Kerber Verlag erscheinen, nachdem der renommierte Hirmer Verlag kurz vor dem Erscheinungstermin kleinlaut eingeknickt war. Der Artikel von Baer-Bogenschütz in der KUNSTZEITUNG kulminiert in der Feststellung, daß Restituionen selten moralisch einwandfrei seien.


Matthias Kessler, *1968, Jarrells Cemetry, Eunice Mountain, West Virginia, 2012 © Matthias Kessler

Zwei weitere Ausstellungsbereiche sind dem Österreicher Matthias Kessler,*1968, und dem Schweizer Sandro Steudler,*1971, gewidmet. Matthias Kessler problematisiert in „Stating Nature“ unsere Auffassung von Natur. Mit Raffinesse und Ironie setzt er Natur neu in Szene und bezieht sich dabei auf Kunstgeschichte, Philosophie und ökologische Debatten. Im Kirchner Museum gestaltet er in einem Ausstellungsraum eine fotografische Totalinstallation als eine begehbare Landschaft der Zerstörung. Dazu verwendet er Luftaufnahmen vom sogenannten Mountaintop Mining in West Virginia. Der Werkkomplex (2011/12) zeigt die Folgen eines exzessiven Bergbaus in den USA. Bei dieser speziellen Form des Tagebaus werden ganze Bergkuppen abgetragen, um leichter an die Kohleflöze zu gelangen. Mit Hilfe von digitalen Kartierungsprogrammen werden von Kessler große Tableaus zusammengefügt, die als monumentale Bilder der Zerstörung erscheinen. Diese ausgebeuteten, zerstörten Landschaften sind uns ja von den deutschen Braunkohle-Tagebauen von Garzweiler oder der Lausitz geläufig.


Sandro Steudler, * 1971, Der Bau,  2013 -15 /Zustand 2012, Datenplastik, 3D-Stahlprint geschliffen © Sandro Steudler

Der Schweizer Künstler Sandro Steudler, „Der dritte Fels“, pflegt ein ausgeprägtes Interesse für den Untergrund, den er als „terra incognita“ der Jetztzeit definiert. Sein besonderes Interesse gilt unterirdischen Bunkeranlagen, Tunneln, Schächten und erfundenen Räumen. Er entwirft und baut Objekte, die das Grenzland zwischen Architektur, Skulptur und Modell ausleuchten. Die Produktion einer raum-plastischen Kunst-Welt zeigt sich beispielhaft in der Stahlplastik „Der Bau“ - der Titel ist Franz Kafkas unvollendeter Erzählung „Der Bau“ von 1924 entlehnt. Der „Findling“ ist eine begehbare Skuptur aus lichtdurchlässigem Beton, die als modellhafte Miniatur auch Bestandteil der Stahlplastik ist. In der Nacht verwandelt sich der Findling in eine von innen beleuchtete Lichtskulptur. Steudler bezieht seinen transluzenten Felsen auf die beiden Felsendenkmäler zu Ehren Friedrich Nietzsches bei Sils-Maria im Engadin. Sandro Steudlers „Der dritte Fels“ korrespondiert als Denkmodell, virtuelle Plastik, Installation und Lichterlebnis hervorragend mit der minimalistischen Architektur des Museums.
 
Informationen:
Ausstellungsdauer
Ernst Ludwig Kirchner.Ich gehe von der Bewegung aus 03.06. - 04.11. 2018
Provenienzforschung zur Stiftung Baumgart-Möller 03.06. - 04.11. 2018
Matthias Kessler. Stating Nature 03.06. - 04.11. 2018
Sandro Steudler. Der dritte Fels 03.06. - 21.10. 2018
 
Öffnungszeiten:
Dienstag bis Sonntag, jeweils 11 bis 18 Uhr - Montags geschlossen
 
Öffentliche Führungen
Dienstags und sonntags jeweilos um 16 Uhr
Private Führungen
Anmeldung unter +41(0)81 410 63 00
 
Informationen zu Veranstaltungen, Workshops etc.:  www.kirchnermuseum.ch