Umrühren des Kaffees (Meditation)

Aus dem Zettelkasten

von Erwin Grosche

Erwin Grosche - Foto © Frank Becker
Umrühren des Kaffees
(Meditation)
 
Nichts ist schöner als das Umrühren eines Kaffees. Wenn draußen die Welt tobt, Kriege erklärt werden, Frauen sich ihre Nase richten lassen. Man rührt und rührt und summt dabei: „Der Kaffee erkaltet, so rührend verwaltet, es kommt Rhythmus auf und Genuss. Man rührt ihn und spürt es. Bereit ist der Kaffee, bereit ist der Trinker, berührt euch nun endlich zum Kuß.“ Der Kaffeetassenklangdesigner Heiner wußte schon seit Kindesbeinen, daß das Umrühren mit dem Löffel nicht nur zum Mischen taugt. Man erzeugt einen Klang, der sowohl verletzlich ist, als auch aufhorchen läßt. Das ist ein Lebenszeichen, ein Hilferuf. Da klopft jemand an, da mischt sich jemand ein in die eigene Gedankenwelt. Manche leiten damit eine Rede ein: „Liebe Freunde, wir stehen am Ende einer Epoche!“ Manche lassen so den Tag ausklingen. Lauscht meinem Rührstück. Wir rühren den Kaffee, da entsteht Zeit, da entsteht Zauber, da entsteht Veränderung. Das Rühren des Kaffees entschleunigt die Welt. „Danke Kaffee, danke kleiner Löffel, danke Hand, die ihn schiebt.“ Gerade Menschen, die sonst keinen Sport treiben, können sich hier voll ausleben. Der Stillstand fordert uns heraus. Warum rühren wir? Der Kaffee würde auch von alleine erkalten, oder? Es muß nicht alles einen Grund haben. Der Löffel ist die Nadel auf der sich drehenden Langspielplatte. Bewegen wir die Welt. Umkreisen wir die Meere in einem Einbaum. Haben sie eine Drehrichtung? Können sie in einem Strudel ihre Sorgen begraben? In England rührt man den Kaffee gegen den Uhrzeigersinn. Drehen wir den Zeiger der Uhr zurück. Man will die alten Postleitzahlen wieder haben. Man will wieder mit der D-Mark bezahlen. „Ich will wieder Filterkaffee trinken.“ Man will wieder die alte Liebe haben, die alte Treue, die alte Hoffnung! Das Umrühren eines Kaffees ist der Auftakt eines intimen Kennenlernens. Da läßt jemand sein Leben durcheinander bringen. Kling Klang. Hörst du, wie der Löffel an die Tassenwand schlägt? Ist jemand zu Hause? Da lauschen wir dem schönen „Herein“. Dürfen gleich alle in das Bescherungszimmer treten? Man rührt und rührt und sieht, wie die Milch die Kaffeelandschaft verändert. Trinke nun. Du hast es verdient. Lassen wir uns rühren.
Wir drehen beim Rühren des Kaffees die Wählscheibe des Telefonapparat und sprechen mit dem lieben Gott: „Wär das nicht schön, wenn wir nach Hause kommen würden, und da säße dann einer und sagt: Wir machen uns Deine Sorgen?“
 
 
© Erwin Grosche
 
Das „Weltlexikon“, das sich aus Erwin Grosches Zettelkasten speist, wird im Oktober im Bonifatius Verlag erscheinen.