Seh-Reise (23)

Dreiundzwanzigste Ausfahrt: Carl Schuch

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (23)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
23. Ausfahrt: Carl Schuch

Mitte der Achtziger Jahre sah ich im Lenbachhaus in München die Ausstellung eines Malers, der für mich bis dahin gerade nur ein Name gewesen war: Carl Schuch. Seine Bilder machten mich sprachlos. Eine solch delikate Farbigkeit glaubte ich noch nie gesehen zu haben bei einem deutschen Maler seiner Zeit.
Diese Begegnung für einen knappen Nachmittag leuchtet als heller Stern in meiner Erinnerung, seit einem Vierteljahrhundert. Doch die Entfernung ist wieder gewachsen seitdem. Es hat keine weitere Annäherung stattgefunden. Kaum irgendwo in den Museen, die ich besuche, hängt ein Bild von ihm. Vielleicht mal gerade eines und kein besonders gutes. Auch in Katalogen oder Kunstbüchern – Carl Schuch ist kein Maler, der einem wie andere seiner Epoche immer mal wieder unterkommt. Ein Solitär. Ein kostbarer Seitenarm der Kunstgeschichte.
Als ich jetzt zu Wochenanfang meinen Stoß an Kunstkarten durchzählte im Zehnerschritt, freute es mich, daß die Zahl auf ihn fiel, sein „Stilleben mit Zinnkrug“. Sieben Tage genoß ich sein Bild in vollen Zügen. Jedesmal, wenn ich in meiner Küche werkelte, belebte sich die Ausstellung im Lenbachhaus vor fünfundzwanzig Jahren neu, als sei es vor kurzem erst gewesen.
Was für ein köstliches Bild! Ein Fest des Lichtes, herausgemalt aus dem Dunkel von Schwarz und Grau und Braun. Bis auf den weißen Teller vorn nur diese drei Farben. Aber in ihnen, besonders in dem Grau und Braun, ist der ganze Reichtum aufgefächert, der in dem Wort „Farbe“ liegt.


Carl Schuch, Stilleben mit Zinnkrug, 1885 -  © Museum Wiesbaden

Auf gestrecktem flachem Querformat drei Gegenstände alltäglichster Art, auf der bloßen Holzplatte eines Tisches. Leer. Vor dem Nachtschwarz einer Wand: Ein Zinnkrug, mit einer Delle in der Bauchung. Ein rundes Gefäß davorgesetzt, mit Bast verkleidet. Vollkommen aus der Zeit geraten, seine Verwendung heute nur noch zu ahnen: Für Honig vielleicht, Marmelade? Der leere weiße Teller. Drei altmodische, abgenutzte, demolierte Geräte, ohne jeden erkennbaren Gebrauchswert. „Und es war kein Tee zum Trinken da“, wie Gottfried Benn in seinen Versen auf Nietzsche sagt.
Drei bloße Raumkörper in Braun und Grau und Weiß. Sie stauen sich, eng aneinander gerückt, auf der linken Tischseite. Die rechte Hälfte der Holzplatte ist frei. Sie nimmt, abgeblaßt, diese drei Farben in sich hinein, spiegelt, gewissermaßen, ihre schwere Dinglichkeit. Und doch ist da so gar nichts Drückendes. Dieser eine Lichtstrahl, der an dem Zinnkrug aufflammt, in der Delle und darüber – ein Pinselstrich Weiß. Er belebt die tote Welt der Gegenstände, atmet Geist in sie hinein. Das einfache, bescheidene Glück zu leben, vor der schwarzen Wand des Nichts. Die gemalte Daseinserfahrung des Menschen – in drei stumpfen Farben. Das ist alles.
Ja, es ist das Glück unserer Augen, unseres Sehens, das Carl Schuch in seinem Stilleben eingefangen hat. Ich kenne nur einen Maler, der solche Bilder auch gemalt hat, von einer leuchtenderen Palette: die Äpfel des Paul Cézannne. Schuch ist sein dunkler nordischer Bruder.
Aus der spärlichen Literatur erfahre ich, daß der Österreicher Schuch zwischen 1882 und 1896 seine Winter in Paris verbracht hat und dabei wohl auch in Beziehung zu Cézanne getreten ist. Aus dieser Zeit stammt das Wiesbadener „Stilleben mit Zinnkrug“. Bald danach mußte Schuch Paris verlassen. Der Keim der Syphilis brach aus in ihm, und krank kehrte er zurück in seine ungeliebte Heimatstadt Wien, um dort, in einer Irrenanstalt, einen langen Tod zu sterben, in „paralytischem Blödsinn“, wie Nietzsche. An Malen war nicht mehr zu denken.
Und wenn er nur dieses eine Bild geschaffen hätte – es wäre genug.
 
Carl Schuch, Stilleben mit Zinnkrug, 1885. Museum Wiesbaden
 
 

Redaktion: Frank Becker