Eine Welt in deinem Haar

Ein Foto von Frank Becker - zu einem Prosastück

von Charles Baudelaire

Foto © Frank Becker

Eine Welt in deinem Haar
 
Laß mich lange, lange den Duft deines Haares einatmen, mein ganzes Gesicht hineintauchen, wie ein Dürstender ins Wasser einer Quelle, und es in meiner Hand schwenken, wie ein duftendes Taschentuch, um Erinnerungen in die Luft zu schütteln. xxxxx
Wenn du wissen könntest, was alles ich sehe! Was alles ich errieche! Was alles ich in deinen Haaren höre!! Meine Seele wandert auf dem Duft, wie die Seele der anderen .Menschen auf der Musik. Deine Haare bergen einen ganzen Traum, voll von Segeln und Masten, sie bergen große Meere in sich, deren Monsune mich zu entzückenden Küsten tragen, wo der Himmel blauer und tiefer ist, wo die Luft von den Früchten, von den Blättern und von der Haut der Menschen duftet.
Im Ozean deines Haares ahne ich einen Hafen, wimmelnd von schwermütigen Gesängen, von starken Männern aus allen Völkern und von Schiffen jeder Gestalt, die sich mit ihren feinen und ineinander geschlungenen Formen gegen einen unermeßlichen Himmel abheben, an dem die ewige Glut sich prahlend spreizt.
In den Liebkosungen deines Haares finde ich die Mattigkeiten der langen Stunden wieder, die ich auf dem Divan in der Kajüte eines schönen Schiffes erlebte, Stunden, gewiegt von dem unmerklichen Wellenschlag des Hafens, zwischen den Blumentöpfen und den Krügen mit erfrischenden Säften. In dem glühenden Herd deines Haares atme ich den Duft des Tabaks, mit Opium und Zucker vermischt; in der Nacht deines Haares sehe ich die Unendlichkeit der tropischen Himmelsbläue glänzen; auf den flaumigen Ufern deines Haares berausche ich mich an den durcheinander wehenden Düften von Teer, Moschus und Kokosnußöl. Laß mich deine schweren, schwarzen Flechten lange beißen. Wenn ich an deinen geschmeidigen und widerspenstigen Haaren knabbere, ist es mir, als ob ich Erinnerungen äße.
 
Charles Baudelaire - Prosadichtungen
übersetzt von Walther Küchler – Verlag Lambert Schneider 1947