Vier Lehren aus dem ESC 2018

Ein Kommentar

von Ulli Tückmantel

Foto © Anna Schwartz
Vier Lehren aus dem ESC 2018
 
Von Ulli Tückmantel
 
Überraschend war schon, daß das Publikum im ersten Halbfinale Rußland (verdient) aus dem Wettbewerb stimmte. Das ist nicht das Einzige, was sich erst recht mit dem Sieg von Netta für Israel beim ESC geändert hat.
Deutschland ist mit Michael Schulte beim Eurovision Song Contest auf dem vierten Platz gelandet. Israel holte mit Sängerin Netta den Sieg. Es ist der vierte Triumph Israels in der Geschichte des ESC – zuletzt gewann vor 20 Jahren die Sängerin Dana International. Für Deutschland ist es die beste Platzierung seit Lenas Sieg vor acht Jahren. Vier Beobachtungen zum ESC:
 
1. Auf der ESC-Bühne wird der liberale Westen verteidigt
Lange Jahre war es den ESC-Verantwortlichen gar nicht recht, daß ihr ehemaliger „Grand Prix“ seine treuesten Fans vor allem unter Schwulen hatte. Das war zu der Zeit, als die CSU es neben dem Aufhängen von Behörden-Kreuzen noch nicht für ihre Kernaufgabe hielt, arabischstämmige und muslimische Zuwanderer auf die Rechte von Frauen und Schwulen hinzuweisen und zu behaupten, daß man als CSU selbst schon immer händchenhaltende Männer super gefunden habe.
Beim ESC wurde die Toleranz-Erwartung aus Sorge um das eigene Fan-Publikum erst zum Thema, als die Teilnehmer- und Gastgeberländer plötzlich auch Rußland oder Aserbaidschan hießen. Gefühlt (und wahrscheinlich tatsächlich) standen nie so viele lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender, intersexuelle und queere Menschen auf und eben nicht mehr bloß vor der ESC-Bühne wie in Lissabon. Die einzige Gemeinsamkeit der LGBTQ-Community, nicht der Heteronormativität zu entsprechen, gehört inzwischen längst in den Wertekanon der liberalen Demokratien. Das haben noch nie alle Länder ertragen und sich deshalb bei der Ausstrahlung in Zensur aller Art versucht, oder sie blieben irgendwann ganz weg, wie die Türkei seit der Machtübernahme der AKP.
In diesem Jahr kündigte die European Broadcasting Union dem chinesischen Sender Mango TV die Übertragungsrechte. Grund: Der Sender hatte den Auftritt des Iren Ryan O’Shaughnessy aus dem 1. Semifinale geschnitten, bei dem zwei schwule verliebte Tänzer im Mittelpunkt des Bühnenprogramms standen.
Wofür der ESC inzwischen steht, brachte Siegerin Netta in ihrer sehr kurzen Dankesrede auf den Punkt: „Ich bin sehr glücklich“, sagte sie, „danke, daß ihr den Unterschied gewählt habt. Danke, daß ihr Verschiedenheit feiert.“ Abzuwarten bleibt, wie lange sich in einigen europäischen Ländern wie Polen, Ungarn und Österreich die Sendeanstalten gegen andere Tendenzen verteidigen können, die mit rechten Parlamentsmehrheiten auch in die Funkhäuser schwappen.
 
2. Nettas Sieg ist eine Niederlage für die BDS-Antisemiten
So, wie nicht alle Länder die offene Zurschaustellung von Homosexualität ertragen, lehnen es andere ab, gemeinsam mit Israel in einem Wettbewerb aufzutreten. Zum neuen Antisemitismus, gehört auch die sogenannte „BDS“-Bewegung. BDS steht für „Boycott, Divestment, Sanctions“ und ist nichts anderes als „Kauft nicht bei Juden“. Noch in Lissabon vor der Halle wie auch europaweit im Internet machten BDS-Aktivisten Stimmung gegen Netta – und erreichten damit offenbar überhaupt nichts, wie die Televoting-Ergebnisse zeigen. Das ist ein sehr gutes Zeichen!
 
3. Der ESC wird weiter politisiert
Der konservative israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bekam sich am Abend gar nicht mehr ein vor Freunde und kündigte an: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ Das ist nicht nur die Betonung der Selbstverständlichkeit, den ESC in der Stadt stattfinden zu lassen, die Israel unabhängig aller Proteste als Hauptstadt betrachtet und benutzt, sondern wird Netanjahu auch dazu dienen, klarzumachen, daß Israel das einzige Land der Region ist, in der Mitglieder der LGBTQ-Community nicht um Leib und Leben fürchten müssen.
Netanjahu wird zudem die Chance nutzen, mittels des ESC den Europäern klarzumachen, warum er schon lange nicht mehr an eine Zweistaatenlösung glaubt. Die Politisierung des ESC geht weiter.
 
4. Die deutschen Halbgarheiten
Auf dem Weg in die Vergessenheit darf der Interpret des deutschen Beitrags jetzt noch ein paar Tage für die Dauer-Botschaft von ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber herhalten, mit dem angeblich „radikalen Neustart“ des deutschen ESC-Vorentscheids habe man beim federführenden NDR alles richtig gemacht. Platz 4! Hömma! Wenn die Ansprüche höher nicht sind, bitte sehr.
Die eine Hälfte der Wahrheit ist: Der ESC ist im ARD-Budget unverändert eine Ausgabe für Unterhaltungssendungen im abendlichen Hauptprogramm. Die informelle Mitsprache der Plattenindustrie war häufig hoch; traditionell wurde im Hinterzimmer der „Echo“-Verleihung ausgekungelt, was man beim nächsten ESC gern verkaufsfördernd präsentiert hätte.
Deshalb unternehmen weder der NDR noch die Plattenindustrie irgendwelche Anstrengungen, den deutschen Beitrag im abstimmenden Ausland zum Beispiel mit einer Tournee zu promoten. Das war auch deutlich an den Tele-Votes zu sehen, bei denen Wiehießdernochmal deutlich schwächer als bei den Jurys abschnitt.
Die andere Hälfte der Wahrheit ist: Bei den Jury-Votings hat das neue Verfahren, sich vor allem am Geschmack der internationalen Länder-Jurys auszurichten, gut geklappt. Da gibt es nichts zu meckern, das haben Schreiber und seine Leute, die sich selbst vom „radikalen Neustart“ ja ausgenommen hatten, gut hinbekommen.
Preisfrage: Können sie das wiederholen und stabilisieren? Der derzeitige deutsche ESC-Masterplan Plan lautet vorerst, Originalität oder Authentizität gar nicht erst anzustreben. In einer Welt, die zurzeit am liebsten mit dem eigenen Bauchnabel beschäftigte Sensibelchen vom Typ Ed Sheeran auf der Bühne herumhumpeln sieht, kommt eine Ed-Sheeran-Kopie natürlich gut an. Nächstes Jahr wird eine neue Kopie des dann aktuellen globalen Dorfgeschmacks über den Markt getrieben, immer schön medium. Also halbgar.
 

Der Kommentar erschien am 14. Mai 2018 in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.