„Wie Sie von mir gegangen waren weinte mein rechtes Auge“

Die Dichter Jean Paul, Goethe und die „Fundevogel“-Erzählerin

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Wie Sie von mir gegangen waren
weinte mein rechtes Auge“
 
Die Dichter Jean Paul, Goethe und die „Fundevogel“-Erzählerin
 
von Heinz Rölleke
 
Jean Paul, der bedeutende deutsche Romancier, war zu Beginn des 19. Jahrhunderts einer der beliebtesten Schriftsteller, vor allem der weiblichen Leserschaft. Nachdem er 1825 in Bayreuth verstorben war, nahm das Interesse an seinen Werken kontinuierlich ab. Erst um 1900 entdeckte und würdigte ihn Stefan George neu, der ins Bayreuther Gästebuch für ihn (als Spitze gegen Richard Wagner) die Widmung schrieb: „Dem wahren Meister von Bayreuth“. Seither genießt Jean Pauls Werk eine neue, bis heute anhaltende internationale Hochschätzung – nun aber bei Literaturwissenschaftlern und wirklichen Connaisseurs. Sein literarischer Durchbruch war dem 30-jährigen Dichter bereits 1793 mit seinem ersten Roman „Die unsichtbare Loge“ gelungen, den er selbst zeitlebens für sein Meisterwerk hielt.
 
Schaut man neuerdings in Wikipedia den Aufsatz zu diesem Roman an, so stößt man auf einige äußerst merkwürdige Wertungen, die in einer solch grundlegenden Information eigentlich nicht am Platz sind. „Der Erzählton bleibt meist ulkig“, heißt es da – wobei ein modernes Fehlurteil den Leser gänzlich unangemessen bevormundet. Noch seltsamer und hochnäsiger fällt die Bewertung eines Zitats aus: „Die Passage: 'trocknete das eine Auge mit dem weißen Tuche und sah Gustav mit dem zweiten rein und strömend an' grenzt wohl fast ans Lächerliche.“ Es handelt sich um eine anrührende Szene aus dem vorletzten „Sektor“ des Romans, in der es um einen Abschied zweier Liebender für längere Zeit oder für immer geht. Beata hatte ein Billett verfasst:
 
            „Sie hatt' es schon geschrieben und gab es ihm heute beim Abschied. Der frohe Tag, der frohe Abend, die himmlische Nacht füllte ihre Augen mit tausend Seelen und mit zwei Tränen, die stehen blieben. Sie deckte und trocknete das eine Auge mit dem weißen Tuche und sah Gustav mit dem zweiten rein und strömend an wie ein Spiegelbild.“
 
Sie verbirgt nur eine ihrer Tränen; durch die in dem anderen Auge verbleibende sieht sie den Geliebten mit feuchtglänzendem, aber klaren und reinen Blick zum letzten Mal an. Das Bild ist gewagt, aber alles andere als 'lächerlich'.
 
Welch tiefen Eindruck das originelle Abschiedsbild machen kann, bezeugt kein Geringerer als Goethe, der in seinem drei Jahre nach Jean Pauls Erstling erschienenen Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ deutlich darauf zurückgreift (was indes bis heute noch kein Kommentator erkannt hat). Therese zeigt in einem Dialog mit ihrem quasi Verlobten Wilhelm (VII.5) andeutungsweise ihre Liebe:
 
            „Ein Seufzer erweiterte ihre Brust […] und in ihrem rechten Auge blinkte eine schöne Träne. 'Glauben Sie nicht', fuhr sie fort, 'daß ich so weich, so leicht zu rühren bin! Es ist nur das Auge, das weint' […] er sah ihr ins Auge, es war klar, wie Kristall, er glaubte bis auf den Grund ihrer Seele zu sehen.“
 
Goethe vertieft das Blickmotiv durch die auch schon bei Jean Paul angedeutete überkommene Vorstellung, dass man beim Anblick eines Auges wie durch ein 'reines' oder 'klares' Fenster bis in die Seele schauen kann. Indem die Frauengestalten bei Jean Paul und Goethe nur mit einem Auge durch ihre Tränen blicken, geben sie ihre Gefühle gewissermaßen nicht ganz preis und vermeiden dergestalt ein unkontrolliertes, hemmungsloses Weinen in der Öffentlichkeit. Beziehungsweise vor ihrem Geliebten.
 
An gänzlich unvermuteter Stelle taucht das Motiv wenig später auf. In ihrem Brief vom 14. September 1808 schreibt die 24-jähjrige Friederike Mannel - eine Märchenbeiträgerin der Ersten Stunde, der wir unter anderen das bekannte Märchen vom „Fundevogel“ verdanken - an Wilhelm Grimm nach dessen Besuch in ihrem Elternhaus:
 
            „Es thut mir noch leid daß Sie weg sind, ich kann noch nicht wieder recht fröhlich seyn. Wie Sie von mir gegangen waren weinte mein rechtes Aug, es weint zwar leichter wies andre, aber doch nicht gar zu leicht; es that mit recht leid, daß Sie gingen.“
 
Wieder geht es, wie in Jean Pauls Roman, um eine Abschiedsszene, wieder zeigt die Frau ihre Gefühle nicht hemmungslos, sondern sie gestattet nur einem Auge zu weinen (wie bei Goethe ist es das rechte, und wie bei Goethe geht es um einen „Wilhelm“!). Damit deutet sie ihre Liebe und große Rührung zwar unüberhörbar an - denn dieses Auge weint „nicht gar zu leicht“ -, versichert sich aber zugleich auch durch die Trockenheit des anderen Auges einer reservatio mentalis, denn ihre Neigung zu Wilhelm Grimm war ihren Eltern nicht genehm und eine dauernde Verbindung zwischen beiden hatte sie schon früh als utopisch erkennen müssen.
 
Das Weinen mit nur einem Auge ist wirklich ein interessantes, apartes und nur selten begegnendes Motiv innerhalb der deutschen Literaturgeschichte. Jean Paul scheint es erfunden zu haben, Goethe hat es wohl von diesem jüngeren Dichterkollegen übernommen und auf seine Weise vertieft, und eine Pfarrerstochter im seinerzeit recht kulturfernen Allendorf in der hessischen Schwalm hat ihm ehrlichen Herzens 'Sitz im Leben' gegeben.
 
Mit Jean Pauls 'Ulkereien' und 'Lächerlichkeiten', wie sie im derzeitigen Wikipedia-Artikel unterstellt werden, ist es wohl nichts; und ein weiteres Mal erweist sich eine eigene unvoreingenommene Lektüre der in Rede stehenden Originalliteratur als unverzichtbar.
 
 
© 2018 Heinz Rölleke für die Musenblätter