Nekrolog für Tankred Dorst

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker

Nekrolog für Tankred Dorst


L
ieber Tankred,
als wir uns 1944 in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager kennenlernten, glaubten wir so viele Gemeinsamkeiten aneinander zu entdecken, daß wir uns nie mehr allein fühlen würden. Du warst gerade 19 Jahre alt, hattest die Schule hinter Dir und warst wie ich als Fallschirmjäger in Gefangenschaft geraten. Wir mochten uns sofort, als wir uns nach der Arbeit in Kladden kritzelnd gegenüber saßen. Ich lernte in Dir eine ganz ungewohnte Art von Charakter kennen: mit Herkunft und Bildung aus dem Großbürgertum, mit wenig Interesse für bürgerliches Fortkommen und Geltung, aber mit dem alles ausfüllenden Vorsatz, große Literatur zu schreiben – etwa wie Tschechow. Zunächst inszeniertest Du Stücke von mir auf der Lagerbühne, und 1947 wurden wir fast gleichzeitig über England nach Deutschland entlassen.
 
In den ersten Nachkriegsjahren in Wuppertal waren wir fast unzertrennlich. Wir trafen uns in der von Paul Pörtner neu gegründeten jungen Künstlergruppe der TURM und bestritten mit anderen zusammen die ersten künstlerischen Veranstaltungen. Wir lasen unsere ersten Geschichten öffentlich vor. Ich sehe Dich noch vor mir, wie du Deine Geschichte „Esther geht zum König“ vortrugst.
Du hast einige Jahre studiert, zogst dann nach München, hattest einen Verlagsjob als Lektor und bekamst schon bald den Auftrag, das Drehbuch für einen Film über das Zähneputzen zu schreiben.
 
1960 wurde Dein erstes Stück „Die Kurve“ wurde von Arno Wüstenhöfer in Lübeck inszeniert. Der Dramatiker Tankred Dorst erschien damit auf dem deutschen Theater. Du hattest Deine Identität gefunden.
In den 60er Jahren fandest Du auch Deine Frau, Ursula Ehlers, und da gab es das nächste an Dir zu bestaunen, die enge, völlig vertrauensvolle Zusammenarbeit beim gemeinsamen Schreiben und das Zusammenleben von Euch beiden, das bis zu Deinem Tod währte.
 
Im vergangenen Jahr bist Du gestorben. Aber für mich ist Dein Platz immer noch besetzt. „Ich will Stücke schreiben“, sagtest Du häufig. „Ich kann nichts anderes, ich will nichts anderes.“
 

© 2018 Karl Otto Mühl

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