Karl Marx … und kein Ende?

Zum 200. Geburtstag des deutschen Denkers

von Jürgen Koller

Foto © Margot Koller
Karl Marx … und kein Ende?
 
Zum 200. Geburtstag des deutschen Denkers –
Nachdenkliches, Peinliches und Spöttisches
 
In einer Umfrage einer großen Tageszeitung nach den bedeutendsten deutschen Denkern kam, zur Überraschung vieler Leser, gleich nach Johann Wolfgang von Goethe der 1818 in Trier geborene Karl Marx auf Platz zwei. Dabei ist doch bemerkenswert, daß sich, von einigen Philosophen und von noch weniger 68er Weltverbesserern abgesehen, kaum jemand ernsthaft durch die Marx'schen Schriften gequält hat. Nicht zu vergessen natürlich die Generationen ostdeutscher Studenten aller Fachgebiete, die sich zwangsweise durch den historischen und dialektischen Materialismus Marxscher Prägung durchkämpfen mußten, um ihre Examina bestehen zu können.
 
Es war am 10. Mai 1953, als inmitten der trostlosen, von Trümmern geräumten Innenstadt von Chemnitz, auf dem (damals noch) Stalinplatz, sich eine kaum überschaubare Menschenmenge versammelt hatte, um eine Rede des damaligen Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl, zu verfolgen. Die SED-offizielle Chronik behauptete, es seien 180.000 junge und alte Chemnitzer gewesen, die die Umbenennung ihrer fast 800 Jahre alten Heimatstadt Chemnitz in „Karl-Marx-Stadt“ begrüßt hätten. Es gab Kommunisten, die enthusiastischen Beifall zollten, aber auch viele Menschen, die sprachlos verblüfft, die Umbenennung ablehnten. Und doch waren unter den Teilnehmern der Kundgebung auch etliche Chemnitzer, die hofften, daß mit dem neuen Namen der Stadt endlich der Beginn des Aufbaus des zerbombten Stadtzentrums eingeläutet würde. Die SED-Oberen hatten anlässlich des 135. Geburtstages von Marx einen politischen Anlass gesehen, ein Marx-Jahr auszurufen und zugleich der alten, traditionsreichen Industrie- und Arbeiterstadt Chemnitz den Namen eines der kommunistischen Vordenker zu geben, wie es im Machtbereich der Sowjets üblich war. 'Chemnitz' stand für die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich, stand für Industriefortschritt im Maschinen- und Lokomotivbau, stand aber auch für ein kämpferisches Proletariat, so bei den großen Streiks der Metallarbeiter um Arbeitszeitverkürzungen von 1871/72. Und im frühen 20. Jahrhundert entwickelte sich die Stadt zu einem Zentrum der Automobilfertigung (Auto Union), aber auch der Leichtindustrie (Textilmaschinen, Fahrräder, mechanische Schreib- und Rechentechnik). Es wurde seinerzeit kolportiert, daß die Messestadt Leipzig, die gerade ihren Messebetrieb wieder zum Laufen gebracht hatte, eine Umbenennung der Stadt strikt abgelehnt hätte. Niemand von den Chemnitzer Einwohnern war zu der Umbenennung befragt worden, auf SED-Prikas wurde aus 'Chemnitz' das unaussprechliche 'Karl-Marx-Stadt'. Von den älteren Chemnitzern hat kaum jemand von 'Karl-Marx-Stadt' gesprochen (außer vielleicht beim Fahrkartenkauf), sondern stets nur im besten Sächsisch von 'Cham's'.


Foto © Margot Koller
 
Aber ein Problem für die SED-Ideologen blieb über all die Jahre - Marx hatte in keiner seiner Schriften die Stadt Chemnitz, deren Industrie oder deren Proletariat auch nur erwähnt. Einmal äußerte sich Friedrich Engels in einen Brief von 1876 an Marx mit drastischen Worten über den Autor Johann Most, der in Chemnitz einen populären Auszug des Marx'schen „Kapital“ herausgebracht hatte: „Dieser Mensch , Most meine ich, hat es fertiggebracht, das ganze 'Kapital' zu exzerpieren und nichts draus zu kapieren.“ Most leitete seit 1871 die Redaktion der „Chemnitzer Freien Presse“, dem „Organ des arbeitenden Volkes“. Marx hat dann diesen populären Auszug seines 'Kapitals' für die 2. Ausgabe anonym redigiert.
In den 1960er Jahren begann endlich der Aufbau des Stadtzentrums von Karl-Marx-Stadt. Es sollte großzügig sozialistisch werden und wurde doch nur durch 40 Meter breite, sich kreuzende Aufmarschstraßen ein zugiger, unbehauster Leerraum. Zuerst regierte die Abrissbirne, die etliche erhaltenswürdige Restbausubstanz platt machte, später wurden dann in „industrieller Montagebauweise“ Wohnblocks, Verwaltungen und Institute errichtet. Glücklicherweise wurden die Planungen eines „Zentralen Platzes“ mit betoniertem Aufmarschgelände und gigantischem „Haus der Kultur und Wissenschaften“ zugunsten des Interhotels „Kongress“, der Stadthalle und einer Parkanlage aufgegeben. Aber bereits im Jahre 1971 wurde das neue Symbol der Stadt, ein monumentales Marx-Denkmal vor eine dieser Bürobauten gesetzt. Der Sowjet-Bildhauer Lew Kerbel, erfahren in solchen Monster-Denkmälern, war von der Stadt beauftragt worden, vor allem die geistige Größe von Marx darzustellen. Aus 95 in Leningrad gegossenen, insgesamt 40 Tonnen schweren Bronzesegmenten, die am Standort des Denkmals zusammengeschweißt worden waren, wurde der Marx-Kopf vor vielen zehntausenden Chemnitzern, die die SED-Obrigkeit aus Betrieben und Schulen dahin befohlen hatte, am 9. Oktober 1971 im Beisein von Erich Honecker enthüllt. Bei der Gelegenheit wurde aus der historischen Brückenstraße die „Karl-Marx-Allee“, Aufmarschstraße der alljährlichen Maidemonstrationen. In der Kunstzeitschrift art 2/87 charakterisierte der Schriftsteller Günter Kunert das Marx-Denkmal als: „Gigantomanisch, peinlich, nichtssagend. Der enormer Umfang des Marx-Kopfes sollte eine enorme denkerische Leistung bezeugen – Quantität gleich Qualität.“ Und der renommierte DDR-Bildhauer Fritz Cremer meinte zu Kerbels Marx-Kopf, es sei und bleibe „eine ins Unmenschliche vergrößerte Schreibtisch-Büste“, oder wie es Kunert ausdrückte, ein „Briefbeschwerer des Jahrhunderts.“ Die Chemnitzer sprechen noch heute despektierlich vom „Nischel“ oder noch abfälliger von der „Marx-Rübe“ - zugleich lehnen sie aber einen Rückbau mit Verve ab - der Kopf solle als Zeichen lokaler Chemnitzer Geschichte die Zeitenläufe überdauern.
 

Karl-Marx-Denkmal Chemnitz - Foto © Kora27 - Quelle: Wikimedia

Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Karl-Marx-Städter Bürger mit einem „Ehrenhain der Sozialisten“ beschenkt würden. Die SED-Bezirksleitung verfügte, daß auf einer separaten Fläche des Städtischen Friedhofes – der traditionellen Beisetzungsstätte des Chemnitzer Bürgertums – mit separatem Eingang dieser Ehrenhain eingerichtet werden sollte. Daß dazu alte Grabstätten aufgelassen werden mußten, interessierte die SED-Bonzen nicht. 1982 wurde die Anlage mit dem üblichen sozialistischen Pomp eingeweiht. Ein „Künstler- und Gestalterkollektiv“ unter Leitung des Industriedesigners Clauss Dietel hatte eine Rundgestaltung entworfen, deren rückwärtiger Abschluß eine massige, stark gegliederte Betonwand mit einem Marx-Wort bildet: DENN DAS SEHNEN UND VERLANGEN UND DIE TAT, SIE BLIEB UNS DOCH. Auf geteilten, vertikalen Beton-Wänden wurden Edelstahltafeln mit plasmageschnittenen Namen der 'revolutionären Kämpfer' angebracht. Sucht man heute diese gespenstisch verlassene Anlage auf, erinnert das Ganze an eine aufgegebene Sonnenwend-Kultstätte oder an einen rituellen Opferplatz der Mayas. Üppig blüht Salpeter aus, Sonne, Regen und Frost lassen den Beton mit den Marx-Worten so nach und nach zerbröseln. Was einst für die sozialistische Ewigkeit geschaffen wurde, findet sein zeitliches Ende.
Eine der Hauptforderungen der lokalen Bürgerbewegung konzentrierte sich im Herbst 1989 auf die Wiedereinführung des angestammten Stadtnamens. Besonders die Initiative “Für Chemnitz“ hatte es sich zur Aufgabe gemacht, neben dem Sammeln von Unterschriften vorhandene Defizite im Wissen um die Stadtgeschichte aufzuarbeiten. Im April 1990 kam es zu einem Bürgerentscheid – mittels Stimmzettel konnten die Chemnitzer Einwohner demokratisch über den Stadtnamen entscheiden. Dabei stimmte die überwältigende Mehrheit (74,14% der Wahlbeteiligten) für 'Chemnitz'. Die Rückbenennung erfolgte dann am 1. Juni 1990 mit dem Beschluß Nr. 002 des neugewählten Stadtparlaments.


Foto © Margot Koller
 
Alle die von den SED-Großkopfeten in seiner Vaterstadt Chemnitz veranlassten politischen Ereignisse mit Marx-Bezug hat der Autor dieser Zeilen miterlebt, zumindest aus Halbdistanz verfolgt. Bereits zur Umbenennung 1953 war er als 12-jähriger Schüler auf den Stalinplatz zur Grotewohl-Rede beordert worden. Nur den Bürgerentscheid und die Rückbenennung seiner Vaterstadt hat er aus der Ferne des bergischen Landes begrüßt. Als Student an der Karl-Marx-Universität Leipzig hat sich der Autor in den 60/70er Jahren auch intensiv mit Marx beschäftigen müssen. (Die Alma Mater Lipsiensis war 1953 zeitgleich mit Chemnitz umbenannt worden; der Name Marx-Uni wurde 1990 getilgt.) Der frühe Marx zeigte sich in seinen Schriften undogmatisch und philosophisch auf der Höhe der Zeit. Seinem Verständnis der Gesellschaft mit solchen Begriffen wie Überbau, Basis, Kultur und Entfremdung kann man noch folgen. Natürlich scheint heute Etliches, was Marx in späterer Zeit formuliert hat, wie von einem anderen Stern, aber es muß fairer Weise bedacht werden, bis zu seinem Tod 1883 hat Marx nur den „Manchester-Kapitalismus“ kennengelernt und analysiert.
Zum 200. Geburtstag von Marx sollte daran erinnert werden, daß er selbst nicht aus proletarischem Milieu stammte, daß er stolz auf seine Frau Jenny von Westphalen als einer echten Adligen war, daß er ein liebevoller Vater für seine drei Kinder war, daß er für seinen Status stets Hausbedienstete brauchte, auch daß er eines der Hausmädchen schwängerte und sein vermögender Freund Friedrich Engels die Alimente für das Kind übernahm und last, not least, daß Marx in Köln, Brüssel und London stets in Gegenden mit ordentlichen Schankhäusern Quartier genommen hatte. Er hat zeitlebens über seine wirtschaftlichen Verhältnisse gelebt...
Lassen wir es mit einer seiner Kern-Aussagen bewenden: Das Sein bestimmt das Bewußtsein, oder frei nach Bert Brecht: Erst kommt das Fressen, dann die Moral!
 
 
© Jürgen Koller