Viel mehr kann ein Film nicht erreichen.

„Lady Bird“ von Greta Gerwig

von Renate Wagner

Lady Bird
(USA 2017)

Drehbuch und Regie: Greta Gerwig
Mit: Saoirse Ronan, Laurie Metcalf, Laurie Metcalf, Timothée Chalamet u.a.
 
Sie heißt eigentlich Christine, aber das paßt ihr nicht wie so vieles in ihrem Leben. Also ändert sie es eigenmächtig und will nur „Lady Bird“ genannt werden. Die Mutter hat eigentlich keinerlei Verständnis, wenn sich die Tochter wie verrückt benimmt, und meint, sie solle doch nicht so egozentrisch sein. Da reißt diese nur die Autotür auf und läuft wütend davon…
Was erzählt Drehbuchautorin / Regisseurin Greta Gerwig in diesem Film? Daß man mit dem Zufall der Geburt nicht rechten kann. Man kann es sich nicht aussuchen, ob man in einem Palast zur Welt kommt oder bei armen Leuten. Man kann sich nur dagegen wehren, daß das scheinbar vorgegebene Schicksal unausweichlich sein soll. Wer unter „White Trash“ in den USA geboren wird, hat gute Chancen, das sein Leben lang zu bleiben und es an die nächsten Generationen weiter zu geben. Bildung ist zweifellos ein Weg aus der Armutsfalle, aber je selbständiger man zu denken beginnt, umso mehr entfernt man sich aus der Welt, aus der man kommt. Und das sind Mechanismen, gegen die man fast nichts tun kann.
„Lady Bird“ versucht es. Und wenn man nicht fehl geht in der Annahme, daß Greta Gerwig wenn schon nicht ihr eigenes Schicksal geschildert, so doch eigene und fremde Erfahrungen ihrer Jugend verarbeitet hat (sie ist auch in Scacramento geboren, wo der Film spielt), dann ist sie selbst der Beweis dafür, was alles möglich ist – im Überwinden der scheinbar durch die Umwelt gesetzten Grenzen.
 
2002 in Sacramento. Man sieht Lady Bird bei ihrem Protest zu. Bei ihren Versuchen, aus der Welt herauszukommen, in der sie steckt. Da läßt man als wütende 17jährige die Nonnen in der katholischen Mädchenschule wissen, daß man nicht hierher gehört. Daß man unbedingt nach New York will. Die Klosterschwestern lächeln. Sie solle es doch beim Theater versuchen, meinen sie, der jugendliche Hang zur Theatralik ist evident.
Die Handlung setzt sich aus vielen Puzzleszenen des Alltags zusammen. Da wirkt man in einem Musical mit. Der irische Junge, den sie anspitzt, will nach Paris. Sie gibt ein bißchen an über ihre Familie, erfindet einen Vater in Brasilien, weil mit dem echten arbeitslosen Vater kein Staat zu machen ist. (Deshalb muß die Mutter im Krankenhaus Doppelschichten schieben, um die Familie zu ernähren.) Wenn Freund Danny sie zum Thanksgiving mit seiner Familie einlädt, läßt sie ihre Familie ohne weiteres sitzen – egal, wie traurig die Mutter darüber sein mag. Erfolgreich zu sein, bedeutet allein noch nichts, möchte die Mutter ihr sagen. Aber das kann Lady Bird nicht akzeptieren, schon gar nicht angesichts des arbeitslosen, deprimierten Vaters.
Die Mutter: Sie ist der Mensch, an dem man sich reibt, gegen den man anläuft, den man mit Wonne verletzt – aus Rache dafür, wofür die arme Frau nichts kann: Daß sie der Tochter keine bessere Chancen ins Leben mitgegeben hat. Freilich, leicht hat es niemand – Danny ist eigentlich schwul und schämt sich so dafür.
 
Vielleicht sollte auch Lady Bird sich schämen, wenn sie die Nonnen so lange provoziert, daß sie Gefahr läuft, aus der Schule zu fliegen. Eine Schule, die die Eltern bezahlt haben, weil sie die einzige Garantie war, daß dort keine Messer gezogen werden. Was immer wir dir geben, es wird nie genug sein, weiß die Mutter. Ich werde es Euch zurückzahlen, und dann muß ich nie wieder mit Euch zu tun haben, schäumt die Tochter.
Wenn sie dem Musiker Kyle ihre Unschuld hingibt, in der Meinung, es sei etwas Besonderes, „I wanted it to be special“, erfährt sie, daß er routinemäßig herumschläft. Dann ist die Mutter gut genug dafür, sich bei ihr auszuweinen. Die Mutter, die die Tochter nie fallen lassen wird, egal, wie schlecht sich diese benimmt. Ja, und die Nonnen haben auch Humor – und behalten Lady Bird in der Schule.
Lady Bird weiß, daß das College wahrscheinlich der Ausweg ist, weiht aber ihre Mutter in ihre Bemühungen, aufgenommen zu werden, nicht ein. Letztendlich ist sie dann dort, am College in New York, und endlich innerlich ein gutes Stück weiter. Als man sie nach ihrem Namen fragt, sagt sie jetzt „Christine“. Und woher sie stammt: Scaramento. Und jetzt kann sie auch wieder in eine Kirche gehen. Die Welt, aus der sie kommt, ist weit weg und kann nun angenommen werden.
Es ist ein unglaublich starkes Ende, wenn „Christine“ zuhause anruft, niemand hebt ab und sie auf den Anrufbeantworter sagt: Ich bin’s, Christine, der Name, den ihr mir gegeben habt und der gut für mich ist. Mum, ich liebe Dich und danke.
Kitschig? Ja. Aber dieser Film war über weite Strecken so ehrlich schmerzlich, daß man dies als Selbsterkenntnis-Finale hinnimmt. Diese ehemalige Lady Bird wird es als Christine schaffen. Beim Theater? Oder beim Film?
 
Greta Gerwig, die man als Schauspielerin kennt und die hier Regiedebüt gibt, trifft gleicherweise die Atmosphäre ihrer Unterschichts-Welt wie die Befindlichkeiten ihrer Figuren: Saoirse Ronan ist so herrlich sperrig und ruppig (und gar nicht um Sympathie bettelnd), wie man sich Lady Bird nur vorstellen kann, und Laurie Metcalf als Mutter weiß, daß man von seinem Nachwuchs nichts Gutes erwarten kann – und daß man doch liebt. Es ist über weite Strecken die Mutter-Tochter-Auseinandersetzung, die absolut jede Frau kennt (wenn auch in verschiedener Gewichtung und verschiedener Intensität). Greta Gerwig hat auch, wie man gelesen hat, ihr Drehbuch unter dem Arbeitstitel „Mütter und Töchter“ geschrieben… und hat den Kampf der Persönlichkeiten immer wieder verbal und emotional punktgenau zugespitzt.
So problematisch, wie das Leben ist, läuft es auch mit den anderen nicht rund, dem sanften, wohlmeinenden Vater Larry (Tracy Letts), den gegeneinander ausgespielten Freundinnen (Beanie Feldstein und Odeya Rush), mit dem schwulen Danny (Lucas Hedges), mit dem ersten Sexpartner Kyle (Timothée Chalamet). Es stimmt eigentlich alles. Und wirkt unverfälscht wahr. Viel mehr kann ein Film nicht erreichen.
 
 
Renate Wagner