Seh-Reise (14)

Vierzehnte Ausfahrt: Giorgione

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (14)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
14. Ausfahrt: Giorgione

So ratlos wie diesmal war ich sonst nie, wenn ich beim morgendlichen Teebereiten (zu ordentlichem Kochen hat’s bei mir zeitlebens nicht gereicht) hochschaute zu dem Holzrähmchen neben der Spüle. Was ich darin unter der Woche sah, kam mir vor wie lange ausgedientes Bildungsgut. Ich konnte einfach nichts mehr anfangen damit, gedanklich so wenig wie vom Gefühl. Ja, ich genierte mich sogar ein bißchen: Für so etwas hast du dich früher also mal begeistert?!
Und wie ich das getan hatte, um 1970, mitten in meinen Zwanzigern, als ich zum ersten Mal vor der Malerei Giorgiones stand, in der „Akadamie“ von Venedig! Da sah ich (und diese Woche noch einmal) seine „Tempesta“ – das Gewitter. Mit welchen Augen soll ich es beschreiben? Versuchsweise mit denen von vor vierzig Jahren? Nein, in diesen Fluß kann und mag ich nicht mehr steigen.
Heute sehe ich ein Bild, das mir vollkommen übermöbliert vorkommt. Bis in den letzten Winkel der Leinwand (oder der Holztafel?) ist es ausgemalt, aus einem horror vacui heraus, den ich überhaupt nicht mehr schätze. (Eher das Gegenteil.) Es ist alles da, was im quattrocento das Herz eines Kunstbetrachters in der Weltstadt Venedig erfreuen mußte: Die Naturgewalt oben am Himmel, in graugrünem Gewölke, aus dem weiß der Blitz herauszuckt. Darunter die Stadt, geschützt von einer Mauer mit Wehrtürmen, wie es sich für das Mittelalter gehörte, umrahmt von hochwachsenden Bäumen um einen Teich.



Giorgione, La tempesta, um 1508

Vorne, der Augenfänger des Bildes: ein Frauenakt. Unerfindlich, warum sich die junge Frau, einen Säugling an ihrer prallen Brust, bei diesem Wetter nackt präsentiert, lediglich ein weißes Tuch um die Schultern (winzig genug, um nur ja nichts von ihren Reizen zu verbergen). Die Armut kann es nicht sein, die sie zur Nacktheit zwingt. Die Haare der jungen Frau sind zu einer kostbaren Frisur gelegt, ein Tüchlein hineingewunden. So tadellos frisiert könnte die junge Patrizierin auf einen Ball in den Palast ihres Dogen gehen. Sie sitzt, ganz für sich, während im Hintergrund ein Gewitter tobt, am dunklen Gewässer zwischen rohem Fels und schaut vollkommen unbewegt einem Betrachter frontal ins Gesicht. Auch für den Säugling an ihrer Brust hat sie keinen Blick.
Ihr gegenüber, am linken Bildrand vorn, hat sich ein höfisch gekleideter Jüngling aufgepflanzt: hübsch ausstaffiert, in blütenweißer Bluse und einer eleganten Seidenweste über den Schultern, aus rotgoldenem Brokat. In verspieltem Kontrapost steht er da, mit einem Stab in der Rechten tändelnd. Jeder Zoll ein selbstbewußter Geck, schaut der schicke Jüngling in die Welt – durchaus nicht auf die hinter ihm sitzende Frau mit dem Kleinkind an der Brust. Ohne jede Sorge um die beiden Nackten, ohne jedes Anzeichen von Furcht, naß zu werden im Unwetter. Beziehungsloser können zwei Menschen nicht gemalt sein. Zwischen ihnen, auch das noch, Reste von antiker Architektur. Eine unterbrochene römische Mauer, vielleicht mal ein Aquädukt, ein Säulenstumpf auf einem Sockel, der genauso selbstvergessen posiert wie die beiden Personen.
 
Das abschätzige Wort „Pasticcio“ habe ich für derlei Malerei gelernt: Eine Pastete, in die alles hineingebacken ist, was den Gaumen eines Feinschmeckers verwöhnen könnte. Ein Gemälde wie ein Gericht, das vor lauter Köstlichkeit der Zutaten (oder gerade ihretwegen) vollkommen fade, ja eigentlich geschmackslos geworden ist: zu viel des Guten.
Es tut mir leid, aber heute kann ich mir aus diesem Bild Giorgiones nicht mehr die leiseste Freude holen. Es zerfällt vor mir in seine allesamt bestechend gemalten Einzelteile. Als ganzes betrachtet, bleibt nur, achselzuckend, der Verdacht möglicher Sehgewohnheiten der venezianischen Oberschicht um 1500.
Was ich mir vor vierzig Jahren vor diesem Bild gedacht habe, was mich so darin angesprochen hat, daß ich es als Kunstpostkarte mit nach Hause nahm – ich weiß es nicht mehr. Nur so viel: Es war mir ernst damit. Die Tatsache, daß Giorgione ein sehr kurzes Leben hatte, kaum über dreißig Jahre hinaus, und folglich die wenigen Bilder, der er hinterlassen hat, Kostbarkeiten der Kunstgeschichte sind – das, weiß ich, hat mich nicht unbeeindruckt gelassen. Der Nimbus des Frühvollendeten umgibt jedes seiner Werke mit dem Glanz eines seltenen Juwels.
Was wäre, wenn Giorgione ein Lebensalter wie seinem Zeitgenossen Tizian beschieden gewesen wäre, mit einem gewaltigen Nachlaß? Würde man dann zu seinem Bild „Tempesta“ vielleicht sagen: Das Frühwerk eines jungen Mannes, der noch nach seinen Mitteln tastet und sich deshalb den Malkonventionen seiner Zeit überlassen hat? Eine Probe auf ein großes Talent, das erst im Folgenden zu sich selbst finden sollte?
 
Giorgione, La Tempesta
Gallerie dell’Accademia von Venedig
 
Redaktion: Frank Becker