1938

Holger Schaeben – „Am Nachmittag kommt der Führer“

von Robert Sernatini

Titelfoto © Hugo Jaeger / The Life Picture Collection
1938
 
Das Protokoll eines Schicksalsjahrs für Österreich
 
Aufbewahren für alle Zeit!“ hat 1976 der russische Schriftsteller Lew Kopelew sein Buch getitelt, in dem er die fürchterlichen Verbrechen der sowjetischen Armee 1945 bei ihrem Einmarsch in Deutschland schilderte. Ein Titel der auch dem ergreifenden Buch „Am Nachmittag kommt der Führer“ gebühren würde, in dem Holger Schaeben am Beispiel der Familie Schwarz u.a. die Schicksale und die Verfolgung österreichischer Juden durch die braune Pest der Nationalsozialisten ab 1938 und das willfährige Mittun von Großteilen der österreichischen Bevölkerung schildert. Schaeben hat die erschütternden und beschämenden Vorgänge am Beispiel der Stadt Salzburg sorgfältig recherchiert und in seinem Quellenapparat belegt.
Wir erfahren, wie der einstige Gefreite und Kunstmaler Adolf Hitler den österreichischen Bundeskanzler Dr. Kurt von Schuschnigg demütigte, zur Übergabe Österreichs zwang und auf dem „Berghof“ residierte, wir lesen Tagebuchauszüge des „Herrenmenschen“ und Jesuitenschülers Joseph Goebbels und bekommen den Prunk vorgeführt, in dem sich der fette Paradiesvogel und „Reichsmarschall“ Hermann Göring in der eroberten „Ostmark“ spreizte. Dazwischen lesen wir von solchen Normalbürgern, die daran glauben, daß alles nicht so schlimm kommen wird und von solchen, die plötzlich ihrer Mißgunst erfolgreichen jüdischen Mitbürgern gegenüber freie Bahn lassen. Wir erfahren von Denunzianten, von quälender Angst, aber auch stillen Helfern. Und wir müssen im Bewußtsein der historischen Abläufe quälend miterleben, wie Österreicher jüdischer Herkunft nicht fliehen, weil sie nicht glauben wollen, daß es ihnen so ergehen könnte wie den deutschen Juden, die bereits vor ihnen entrechtet, enteignet und bestohlen wurden.
 
Mit dem „Anschluß“ an das Deutsche Reich beginnt eine unfaßbare Welle von Terror. Doch der Umsturz kennt auch Profiteure. Holger Schaeben verfolgt die Ereignisse über 12 Monate hinweg. Tag für Tag und immer wieder aus anderer Perspektive. Hauptakteure sind Franz Krieger und Walter Schwarz, der junge Fotoreporter im Dienst der Nazis und der verfemte jüdische Kaufmann. Erschütternd und als nachhaltige Warnung zu betrachten, sind die fast nicht zu glaubende Nazifizierung des ganzen Landes innerhalb von nur wenigen Tagen nach dem „Anschluß“, die nur mit der Unterstützung der wie teilweise förmlich darauf wartenden Bevölkerung möglich war, das betrunkene „Heil“-Geschrei und das Fehlen jeglichen Unrechtsbewußtseins seitens der Täter und Mitläufer. Einfach nicht zu begreifen ist, daß johlende Menschenmengen ihre jüdischen Nachbarn umringten, während diese von SA-Schergen gezwungen wurden, Bürgersteige mit ihren Zahnbürsten zu schrubben, damit der Führer in ein sauberes Salzburg (analog: Linz, Wien etc.) einziehen kann". Villen aus jüdischem Besitz wurden von Nazi-Größen wie Heinrich Himmler und Otto Begus requiriert, Kunstsammlungenm gestohlen, Konten beschlagnahmt. Daß viele derer, die nach 1938 ihre jüdischen Landsleute bestohlen, drangsaliert, gequält, vertrieben, geprügelt, wenn nicht gar umgebracht haben, nach 1945 recht glimpflich davongekommen sind, macht die Vorgänge noch unerträglicher – die Österreicher waren da nicht besser, teils noch fanatischer als die Deutschen.
Nehmen wir eine solche Warnung ernst in Zeiten sich regender neuer nationalistischer Tendenzen und des Erstarkens von Parteien des äußersten rechten Spektrums in Europa. Auch die haben vielleicht schon ihre Uniformen, Armbinden und Listen auf dem Dachboden versteckt liegen.

Dank der überlieferten 35.000 Fotonegative des Fotoreporters Franz Krieger, die jetzt im Stadtarchiv Salzburg aufbewahrt werden, gibt es für all das Geschilderte Bildbelege (die allerdings im Buch leider nicht zu sehen sind).
Ein Personenverzeichnis am Schluß des Buches gibt Auskunft über Leben, Karriere und Ende der historischen Personen, an deren Schicksal und Tun sich das brillant geschriebene Buch orientiert.
 
Holger Schaeben – „Am Nachmittag kommt der Führer“
Schicksalsjahr 1938
© 2018 Theiss Verlag / WBG, 320 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, Bibliographie, Register, Zeittafel, 14,5 x 21,7 cm - ISBN 978-3-8062-3682-8
29,95 € / 24,95 € Mitglieder WBG
 
Weitere Informationen: www.wbg-wissenverbindet.de