„Dieser lange, nicht enden wollende Weg zu sich selbst.“

Vor 50 Jahren erschien Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“

von Jürgen Koller

„Dieser lange, nicht enden wollende
Weg zu sich selbst.“
 
Vor 50 Jahren erschien Christa Wolfs
„Nachdenken über Christa T.“
 
Vor einem halben Jahrhundert war nicht abzusehen, daß einmal das Jahr 1968 für gesellschaftlichen Aufbruch der Jugend, für Kampf gegen überkommene Biederkeit und Traditionsmuff, für linksradikale Werteorientierung in West-Europa und den USA stehen würde. Und im Osten – da entwickelte sich in einem der sozialistischen Kernländer, der Tschechoslowakei, ein zartes Pflänzchen „demokratischer Sozialismus“, um schon im Sommer des Jahres 1968 von Sowjetpanzern niedergewalzt zu werden. Von Aufbruch war in der DDR nicht einmal im Ansatz etwas zu spüren. Ganz im Gegenteil, noch im Mai 1968 wurde auf Geheiß Walter Ulbrichts die ausbaufähige Ruine des Augusteums, des Hauptgebäudes der Leipziger Universität, gesprengt. Bei der Gelegenheit wurde die im Krieg unzerstörte Pauliner-Universitäts-Kirche gleich mit platt gemacht. Nichts sollte mehr an die großartigen humanistischen Traditionen der alten Alma Mater Lipsiensis erinnern. Das geistige Leben war im Osten Deutschlands nach dem „Kahlschlag-Plenum“, dem berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED vom Dezember 1965 in ein Stadium bleierner Starre verfallen.
 
Es war die junge, für ihren Roman „Der geteilte Himmel“ bereits hochdekorierte Autorin Christa Wolf, *1929, die als Kandidatin des ZK der SED am Plenum teilgenommen und die ihre Stimme gegen die künstlerische Kahlschlagpolitik der Ulbricht, Honecker und Fröhlich - SED-Boss des Bezirkes Leipzig - erhoben hatte. Ihr mutiger Beitrag, von lautstarken Mißfallensbekundungen der Delegierten mehrfach unterbrochen, kulminierte in dem Satz, „daß die Kunst nicht möglich ist ohne Wagnis, das heißt, daß die Kunst auch Fragen aufwirft und aufwerfen muß, die neu sind, die der Künstler zu sehen glaubt, auch solche, für die er noch nicht die Lösung sieht […] und daß die Kunst nach wie vor nicht darauf verzichten kann, subjektiv zu sein [...]“. Von diesem Zeitpunkt an sah Christa Wolf die sozialistische Entwicklung in der DDR kritisch, ließ sie für sich selbst Zweifel und eine skeptische Sicht auf den künftigen Weg der DDR zu. Eine erneute Kandidatur für das ZK der SED lehnte sie ab. Noch im Jahre 1967 begann sie den Roman „Nachdenken über Christa T.“ zu schreiben. Christa T. war ihre Freundin aus Mädchenjahren in Landsberg a.d.W. und gemeinsamer Studienzeit an der Leipziger Uni in den frühen 50er Jahren. Die Freundin, respektive die Romanheldin, die mit 36 Jahren an Leukämie sterben mußte, hinterließ, ungeordnet als Notizen und Tagebuch-Verweise, ihre schriftstellerischen Versuche für Christa Wolf. „Im Nachdenken“ über Christa T. näherte sich die Buchautorin schrittweise der Verstorbenen, die spontan gelebt hatte, für die aber der Rausch der Jugend nicht ihre Welt war, die oftmals für längere Zeit von der Uni verschwand, aber Prüfungen nachholte und die von sich sagte, daß das 19. Jahrhundert mit Raabe, Keller oder Storm „ihr literarisch sehr ansehenswert“ sei. Sie wurde Lehrerin aus Berufung, aber die einstigen politischen Überzeugungen waren längst verloren gegangen, „denn der heftige Streit der früheren Jahre war in Einstimmigkeit übergegangen, Monologe nach dem immer gleichen Textbuch wurden gehalten...“. Mit Betroffenheit erkennt die junge Lehrerin, daß sie ihre Schüler nicht erreichen konnte, daß diese sich die von oben politisch gewünschte Welt - in ihren Aufsatz-Themen – zurecht logen. In der Auseinandersetzung mit dem literarischen Nachlass ihrer Freundin ist Christa Wolf voller Zweifel, öfters relativiert sie Erlebnisse und Stimmungen der Christa T. mit den Worten: „Es könnte so gewesen sein.“ Die so früh Verstorbene war bis in ihre letzte Lebensphase auf der Suche nach sich selbst. Die Erzählerin fand in den literarischen Notizen ihrer Freundin den bemerkenswerten Satz: Dieser lange, nicht enden wollende Weg zu sich selbst. Christa Wolf erweitert diesen Gedanken noch um die Feststellung, die Schwierigkeit, „ich“ zu sagen, das heißt, „vom Schreiben über sich selbst in der dritten Person.“ Und so wird im Roman dieser „nicht enden wollende Weg zu sich selbst“ zur Kernaussage, nicht nur für die Roman-Heldin, sondern ebenso für die Buchautorin Wolf. Christa Wolf hat bis zu ihrem Lebensende immer auf's Neue einen „Weg zu sich selbst“ gesucht. Am Ende des schmalen Bandes bleibt das helle Lachen von Christa T., ihr launiges Trompete blasen, ihr angespanntes Leben als dreifache Mutter und als sorgende Ehefrau eines Land-Tierarztes in Erinnerung und nicht das Dunkel des in den Tod Gleitens. Mit einem letzten Blick auf zwei Sanddornsträucher über dem Grab von Christa T. auf einem kleinen mecklenburgischen Dorffriedhof wird der Leser ohne Sentiment entlassen.
 
Die Autorin war sich bewußt als sie das Manuskript dem Mitteldeutschen Verlag Halle/Saale einreichte, daß ihre Heldin kein „Beispiel“, „nicht

© Aufbau Verlag 1975
beispielhaft, als Gestalt kein Vor-Bild“ ist. Christa Wolf ahnte, daß sie um die Veröffentlichung einen langen, zähen Kampf würde führen müssen. Um eine Druckgenehmigung von der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel beim Ministerium für Kultur der DDR zu erhalten, mußten neben internen Verlagsgutachten eine oder mehrere sogenannte „Außengutachten“ beigefügt werden. Ein negatives Gutachten implizierte natürlich eine Ablehnung des Drucks. So heißt es beispielsweise in einem Gutachten vom 30.6.1967 zur „Christa T.“: „[...]Obwohl die Autorin wahrscheinlich nach dem Scheitern ihres dritten Werkes kaum wieder produktiv sein wird, können wir das Manuskript nicht akzeptieren. Mit kleinen Änderungen ist nichts Wesentliches zu erreichen.“ Nicht immer waren die Abqualifizierungen eines Manuskripts von einer solchen Fallbeilschärfe, oftmals wurden die Kämpfe um die Druckerlaubnis im Zwiegespräch mit dem Zensor freundlicher geführt, aber „das Lavieren, Kungeln, Fraternisieren, Drohen, Bitten und Betteln, Lügen, Verschweigen und Vergessen, das den langwierigen Veröffentlichungsprozeß der „Christa T.“ begleitete, ist [...] ein besonders eindrucksvolles Beispiel, an dem sich viel über die familiäre Diktatur der DDR lernen läßt“, schreibt Jörg Magenau in „Eine Biographie - Christa Wolf“. Man kannte sich, man duzte sich als Genosse - vom Minister bis zur betroffenen Autorin. Gerhard Wolf, Ehemann der Autorin, empfahl seiner Frau, eben das 19. Kapitel mit der „Schwierigkeit „ich“ zu sagen, noch einzufügen. Obwohl diese Ergänzung weder am ideellen Konzept noch an der Gesamt-Aussage etwas änderte, wurde nach nunmehr positiven Gutachten von der HV Verlage die Druckfreigabe im April 1968 erteilt. Es sollten anfänglich 10.000 Exemplare, später dann eine Erstauflage von sogar 20.000 Exemplaren gedruckt werden, 5000 davon für den Luchterhand Verlag. Doch die Leidensgeschichte der Christa Wolf mit ihrem Buch war noch nicht beendet. Ende 1968 wurde die Produktion gestoppt, nur ein verschwindend kleiner Teil der Auflage gelangte in die Öffentlichkeit, der Rest wurde zurückgehalten. Das könnte damit im Zusammenhang stehen, weil Christa Wolf Ihre Unterschrift unter eine unterstützende Resolution des Schriftstellerverbandes zum Einmarsch der Staaten des Warschauer Paktes zur Niederschlagung des Prager Frühlings verweigert hatte. Anfang 1969 wurde dann die Produktion des Buches wieder aufgenommen, aber erst mit dem Schriftstellerkongress vom Mai 1969 wurde der Verkauf genehmigt. Und so kam es, daß im Foyer der Kongreßhalle Christa Wolf ihr Buch signierte und im Saal das gleiche Buch von Diskussionsteilnehmern aus politischen Gründen verrissen wurde. Obwohl „Nachdenken über Christa T.“ offiziell noch immer nicht im Buchhandel erhältlich war, hatte die Autorin ordentlich PR-Arbeit mit ihrem Titel gemacht – es erschienen Kritiken in „Sinn und Form“, im Rundfunk und vor allem in der Kultur-Wochenzeitung „Sonntag“. Und die großen westdeutschen Print-Medien waren auch auf das Buch, daß es noch nirgends zu kaufen gab, aufmerksam geworden: Marcel Reich-Ranicki veröffentlichte in der „Zeit“ eine erste, durchweg faire Rezension. Er lobte das neue Buch der Wolf als „Roman der Empfindsamkeit“, faßte aber das Ganze in die Worte: „Sagen wir es klar. Christa T. stirbt an Leukämie, aber sie leidet an der DDR.“ Es gelang Christa Wolf nicht, Ihr Lesepublikum von dieser, nach ihrer Meinung falschen Interpretation eines Scheiterns ihrer Heldin abzubringen – das Buch wirkte anders, stärker als es die Intention der Autorin war.
 
Es sei noch angemerkt – obwohl im Impressum des Mitteldeutschen Verlages 1968 als Jahr der Veröffentlichung steht, ist das Buch ja erst ein ganzes Jahr später in den Handel gelangt . Das hat schon einen zeitgeschichtlichen Wert. Doch das Buch war nicht mehr aufzuhalten – in der Sowjetunion und Osteuropa, aber auch im Westen fand es eine begeisterte Leserschaft. Nachdem Christa Wolf Anfang der 70er Jahre die Rechte an den Aufbau Verlag in Ost-Berlin gegeben hatte, gingen die Auflagen in die Hunderttausende. „Nachdenken über Christa T.“ war in versteinerter Zeit ein Lichtblick und zugleich ein Hoffnungsschimmer für mögliche Veränderungen im Kulturklima der DDR.
 
Jürgen Koller