Zärtlichkeit und Begehren

Sabine Poeschel – „Die Kunst der Liebe“

von Frank Becker

Umschlag: Emil Nolde, Im Zitronengarten, 1933
Zärtlichkeit und Begehren
 
Ein Blick auf die Liebe
durch die Augen der Künstler
 
„All you need is love“
(Lennon/McCartney)
 
Welcher Künstler, welcher Lyriker oder Schriftsteller hätte sich nicht intensiv dem Thema der Menschheit, der Liebe gewidmet? Niemand der schöpft, kommt darum herum, zumal nicht Maler, Bildhauer, Graphiker und Fotografen. Uns ist das schon klar, begegnet es uns doch auf Schritt und Tritt in Gedichten, Novellen, Romanen – und augenfällig in Bildern, Fotografien und Skulpturen. Gustav Klimts „Der Kuß“, Fritz Koenigs „Paar“, Francesco Hayez „Der Kuß“, Rosemarie Trockels Bildfolge „Paare“, Roy Lichtensteins „Kiss“, Eugen Hoffmanns „Das ungleiche Paar“, Auguste Rodins „Ewiger Frühling“ oder Francesco Jacovaccis „Michelangelo am Totenbett von Vittoria Colonna“ sind nur einige Beispiele derer, welche die Kunsthistorikerin Sabine Poeschel in ihre reich illustrierte, ebenso sachkundige wie unterhaltsame Studie „Die Kunst der Liebe“ aufgenommen hat, die der Theiss Verlag derzeit aktuell vorlegt.
 
„Ob Rembrandt, Goya oder Picasso: Kaum ein Maler von Rang, der sich nicht mit dem tiefsten aller menschlichen Gefühle beschäftigt hätte. In der Kunst war die Liebe schon Thema, bevor die Menschen sie frei von kirchlichen und gesellschaftlichen Zwängen ausleben konnten. Die Heftigkeit des Gefühls bildete den Gegenpol zur Alltagswelt. Sabine Poeschel zeigt die Liebe in ihren vielfältigen Ausdrucksformen durch alle Epochen und Stile. Liebesrausch und Eheglück, Untreue und Verführung, Erotik und Sinnlichkeit sind die vorherrschenden Sujets.“ – schreibt der Verlag zu dem exorbitant gelungenen Band, der sich auf ganz neue und besonders aufschlußreiche Art mit diesem Kernthema menschlicher Existenz beschäftigt, und „das tiefe Geheimnis des Zusammenlebens und der Einheit von Mann und Frau“ in Beispielen und drei spannend zusammengestellten Kapiteln erforscht.

So geht es Sabine Poeschel zunächst um „Die Freuden der Liebe“ (Glücksgefühle ohne Ende), denn um „Die Macht des Eros“ (Im Bann der Sinnlichkeit) und schließlich um „Die tragische Liebe“ (Kein happy end nirgends). All diesen und entsprechenden Unter-Aspekten haben sich Künstler seit Anbeginn intensiv zugewandt, denn darin steckt die ganze Palette menschlicher Emotionen: Verliebtheit, Zärtlichkeit, Treue, Leidenschaft, Verführung, Vertrauen, Frivolität, Haß, Begehren, Erotik, Verrat, Kälte, aber auch Verehrung über den Tod hinaus. Und immer wieder: Der Kuß. Selten zuvor, vermute ich, hat jemand die Kunstwerke der Welt und Epochen so systematisch nach diesen Motiven untersucht, wie es Sabine Poeschel hier tut. Ihr Buch erlaubt, ja fordert beinahe den Sprung zwischen den Kapiteln, denn sie geht nicht chronologisch vor, sondern berührt alle Epochen pro Kapitel immer wieder neu, zieht Künstler-Biographien, Museumsbestände, themenbezogene Ausstellungskataloge, kunsthistorische Abhandlungen, Mythologie und sozialgeschichtliche Untersuchungen zu Rate.


Ferdinand Georg Waldmüller „Die Erwartete“, 1850 - München, Neue Pinakothek

Vielleicht macht eine kleine Kostprobe deutlich, wie intensiv Sabine Poeschel sich mit dem Thema auseinandergesetzt hat: „Ein sehr junger Mann (…) ist der Werber, den Ferdinand Georg Waldmüller auf seinem Gemälde „Die Erwartete“ (siehe oben) mit einem Blumenstrauß am Wegrand knien läßt. Nach seiner Karriere als Porträtist des Adels widmete sich der Künstler dem realistischen Genre sowie Landschafts- und Naturstudien. Beides kombinierte er in diesem Bild (Abb. 12, S. 19): In der zentralen Achse erscheint ein Bauernmädchen, das offenbar auf dem Heimweg von der Kirche im Hintergrund ist. Der Blick der jungen Frau ist auf das Gebetbuch in ihren Händen gerichtet, sodaß sie den jungen Mann am Wegesrand nicht wahrnimmt. Angetan mit einem dunklen Sonntagsanzug hat er offensichtlich vor aufzuspringen, um ihr seine Liebe zu gestehen und ihr die Rosen zu überreichen. Sein sehnsüchtiger Blick und die geöffneten Lippen machen seine zwischen Verliebtheit und Anspannung schwankenden Gefühle deutlich. Der Akzent ist ganz auf die naive und keusche Empfindung des Jünglings gelegt, von der man nicht weiß, ob das Mädchen sie erwidern wird. Und so bleibt der Ausgang der Begegnung der Phantasie des Betrachters überlassen. Doch die Heiterkeit der Atmosphäre an diesem freundlichen Sommermorgen läßt an dem zukünftigen Glück der beiden wenig Zweifel aufkommen: Es sollte dem jungen Mann gelingen, die Liebe des Mädchens von Gott ab- und auf sich zu lenken, schließlich strahlt auch sein Gesicht im hellen Sonnenlicht.“


Francesco Hayez  „Dier Kuß“, 1859 - Mailand, Pinacoteca di Brera

Ihre scharfsinnigen Bildanalysen ermöglichen tiefer gehendes Verständnis für die historischen Zusammenhänge und die ihnen innewohnende Dramatik vieler der Szenen, die
begleitenden übergreifenden sowie verständlich erläuternden Texte zu den Themen und Kunstwerken machen die Lektüre zum bereichernden Vergnügen.



Theodore Chasseriau, Apoll und Daphne, 1846  - Paris, Musee du Louvre
 
Dieses Buch ist eine kleine Kostbarkeit. Es eröffnet dem Betrachter neue, wichtige Blickwinkel - und weil wir oben vom Kuß berichtet haben, auch unsere Auszeichnung, den Musenkuß allemal wert.


Francesco Jacovacci, Michelangelo am Totenbett von Vittoria Colonna, 1880 - Neapel, Museo di Capdimonte

Sabine Poeschel – „Die Kunst der Liebe“
Meisterwerke aus 2000 Jahren
© 2018 WBG / Theiss Verlag, 160 Seiten, 22 x 29 cm, gebunden mit Schutzumschlag, mit 108 farbigen Abbildungen, Bibliographie und Register, Darmstadt -  ISBN 978-3-8062-3676-7
39,95 € / 29,95 € (für Mitglieder der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft)
Weitere Informationen: www.wbg-wissenverbindet.de/