„Du läßt dich geh´n…“

„Venedig im Schnee“ von Gilles Dyrek im Wuppertaler TalTonTheater

von Frank Becker

v.l.: Moritz Heiermann, Daniela Stibane, Denny Pflanz, Tabea Schiefer - Foto © Hermann Aldejohann

„Du läßt dich geh´n…

„Venedig im Schnee“ von Gilles Dyrek

Regie: Benjamin Breutel – Bühne + Kostüme: N.N.
Besetzung: Daniela Stibane (Natalie) – Denny Pflanz (Jean-Luc) – Tabea Schiefer (Patricia) – Moritz Heiermann (Christophe)

Premiere im TTT am 3. Februar 2018

Ein Abend auf der Baustelle

Jean-Luc (quirlig: Denny Pflanz) hat nach zehn Jahren zufällig seinen alten Studienfreund Christophe (etwas steif: Moritz Heiermann) wiedergetroffen und zum Abendessen in die neue, noch improvisierte Wohnung eingeladen, die er und seine künftige Gattin Nathalie (Daniela Stibane) grade umbauen und einrichten (ein wunderbar scheußliches Bühnenbild mit Umzugskartons, Abdeckplanen, viel zu niedrigem Tisch und viel zu hohen Hockern). Jean-Luc (plappernd unterwürfig) und Natalie (zuckersüß zwischernd) werden in 22 Tagen heiraten, turteln in beinahe unerträglicher Verliebtheit, schnäbeln und „chouchouen“ affektiert und unentwegt - Küßchen hier und Chou-Chou da so penetrant, daß man ahnen möchte: das kann so kaum weitergehen. - Ganz im Gegensatz zu Christophe und dessen ruppig schweigender Freundin Patricia (Tabea Schiefer), deren Beziehung deutlich angeschlagen ist. Das im Vorspann zu hörende Aznavour-Chanson „Du läßt dich geh´n“ (und die passend schlampige Kleidung und Frisur Patricias) sind die Botschaft. Er bringt sie dennoch zu der Verabredung mit.

Hier nun beginnt das Spiel mit den Ebenen. Wir haben den Informationsvorsprung, wissen, daß Patricia schweigt, weil sie mit Christophe schmollt. Das wissen die Turteltauben natürlich nicht und vermuten, sie sei des Französischen nicht mächtig. Da der Irrtum nicht sogleich aufgeklärt wird, manifestiert sich die Situation, zumal zur raschen Erklärung irgendeine nicht überprüfbare Heimat aus dem Boden gestampft Chouvenien wird, ein kleines Land im ehemaligen Jugoslawien - und Patricia spontan eine nach Balkan klingende Kunstsprache erfindet. Das geht Tabea Schiefer nach konsequentem Schweigen (Patricia weiß, wie man einen Abend „schmeißt“) locker von der Zunge. Trotz einer gewissen Steifheit Moritz Heiermanns baut sich recht temporeich und witzig immer mehr ein Lügengebäude auf, dessen Dekonstruktion mehr und mehr unmöglich wird. Breutel hat nach der Vorgabe Gilles Dyreks vier Charaktere gezeichnet, denen von ihren Darstellern lebensnah Gestalt verliehen wird. Das Spiel mit Klischees über Männer und Frauen und ihrem Verhältnis zueinander gelingt, die Witzdichte nimmt nach einer kleinen Dürrestrecke zu.
 
Als die beiden Schmusebacken ihr Spenderherz für das arme Chouvenien entdecken und hergeben, was sie eh nicht mehr haben wollten und Patricia eine Plünderungsorgie beginnt, geht das Stück in eine Feydeausche Burleske über, Tabea Schiefer kann loslegen, und sukzessive erweist sich auch die heile Welt der Täubchen nach ersten kleinen Kratzern als Seifenblase. Anlaß dazu gibt, daß Jean-Luc in ungebremster Geberlaune auch Nathalies Schneekugel „Venedig“ hergibt, ohne sie zu fragen (war die jetzt von Mono-Prix oder Mini-Prix?). Hier schlägt dann auch endlich die Stunde des gequälten Christophe, denn Rache ist süß, und daß es zwischen ihm und Patricia durchaus noch knistert wird ebenfalls deutlich. Geschickt vertauscht Breutel die Positionen der Paare, auch in der Sitzordnung am Tisch
Wird das Lügengebilde aufgelöst? Und was wird aus den beiden Pärchen? Die gelungene Schlußpointe werde ich ihnen nicht verraten.
 
„Wir haben kein Recht unser Publikum zu langweilen!“, sagt Gilles Dyrek. É voilá!

Weitere Informationen: www.taltontheater.de