Seh-Reise (6)

Sechste Ausfahrt: Wilhelm Leibl

von Michael Zeller

Michael Zeller - Foto © Frank Becker
Michael Zeller: Seh-Reise (6)
 
Mit Bildern durch das Jahr
 
6. Ausfahrt: Wilhelm Leibl
 
 
Viel vermag die Zeit. Doch, gottlob: Sie kann nicht alles. Vielleicht die größte Chance von uns Menschen. Die einzige?
Diesmal hat die wöchentlich erneuerte Kunstkarte über meinem Spülbecken in der Küche weniger an schierer Zeit abbekommen als sonst. Denn nach zwei Tagen bereits habe ich die Wohnung zu einer Reise nach Indien verlassen, und heute nehme ich das Foto bereits wieder von der Wand, um dem einmal gesetzten Turnus zu genügen. Kurz nur also waren meine Blicke auf das Gemälde Wilhelm Leibls, seinen „Tierarzt Reindl in der Laube“, „um 1890“ gemalt. Auch dieses Bild an der Wand verdankt sich wie alle anderen meinem garantiert seelenfreien Dezimierungsprinzip. Und doch bin ich verwundert bis zur Bezauberung. Hätte sich ein Bild finden lassen, das besser zu dieser Reise und der Rückkehr paßte?
Kurz waren meine Blicke also diesmal gewesen, aber ihre Tiefe hat es in sich gehabt.

Die rechte Bildmitte füllt ein Mann, ein gesetzter, älterer Mensch, der Zeitung liest, im Freien, zur Sommerzeit. Im Profil gegeben, zeigt er sich als ein Bürger seiner Epoche. Strohhut auf dem Kopf, mit breitem schwarzem Kreppband, Vollbart, Backe und Nase gut durchblutet – von der Sonne des Sommers, vom Wein? Der schwarze Anzug, der das Bauchgewölbe kaum versteckt: So senkt der Bürger den Kopf auf das Zeitungsblatt in seinen Händen und liest. Eine Minute der Einkehr, im Alltag. Mehr nicht, auch keine Spur mehr.
Denn um diesen Mann geht es kaum in diesem Bild. Er paßt sich ein in das Licht des sommerlichen Gartens. Das ist es, was den Maler Leibl vor

Wilhelm Leibl, Tierarzt Reindl in der Laube,1890 - Städt. Galerie im Lenbachhaus
seine Staffelei trieb. Und wie er es sah und malte – alles löst sich auf vor und in diesem Licht. Bis eben auf den schwarzen Mann am Rand, im Schatten der Laube. Schon die Zeitung, die er in Händen hält: Das Weiß des Papiers – so gebrochen gemalt, daß es sich kaum absetzt vom hellen Gelb eines Wiesenstücks, vom Weiß des Mooses auf einem Stein vorne. Oder soll das die Tischdecke sein? Es ist alles so flirrend, so licht in diesem Garten des Sommers, der Pinselstrich grob, und holt doch die feinsten Nuancen an Helle heraus. Das Graugrün der Baumrinde - ist es denn ein Baum? Olivgrün das Blattwerk, das keine bestimmte Pflanze erkennen läßt. Nur Blätter. Rote Blüten aus dem Baum – wo kommen die her? Ein Bild, das vor der Helligkeit hiesiger Sommernachmittage zittert. Und ist doch, aus dem Abstand betrachtet, ein in dunklen Tönen gehaltenes Bild. Der Schutz der menschlichen Behausung, der Laube, vor der die Lichtkraft der Sonne geschieht - niemals ungebrochen grell. Selbst die paar Tupfer hellen Gelbs sind verhalten, wirken blaß. Und doch kann ich mir gemalt keine tiefere Jubelfeier des Lichtes vorstellen als in dieser Laube des Tierarztes Reindl zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts, irgendwo in Süddeutschland. Aber auch keine beherrschtere, leisere. Gewalt der stillen Töne. In unserem mitteleuropäischen Klima, seiner Flora.

Für drei Wochen habe ich jetzt gerade ein ganz anderes Licht erlebt, andere Dunkelheiten, Farben, Gerüche, die mich erfolglos um Worte ringen ließen, dazu Temperaturen auf der Haut, die meinen winterstarren Körper überfluteten bis zur Erschöpfung, ohne daß ich einen Finger rührte. Eine entschiedenere Gegenwelt zum Leiblschen Lichtkosmos war in den Tropen nicht zu denken.
Gestern kam ich zurück, in ein verändertes Land. Ich rieb mir der Augen. Frühling! So sieht bei uns der Frühling aus!
Als ich fortgegangen war, Mitte März, waren Baum und Busch noch nackt vom Winter. Und binnen zwanzig Tagen, einem Fingerschnippen, war das Leben ausgebrochen, in allen nur denkbaren Grünen. Sogar Farben zeigte das Land: das Weiß der Magnolien und Schlehen. Heckenweise zogen Forsythien gelbe Linien die Straßen entlang. Zierkirchen in Rosa, Fremdling aus Ostasien, öffneten sich in einen verhangenen Himmel hinein. Das Grün der Birke, von Kiefer, Ahorn, Haselnuß, von Wiesengründen, und jedes ein anderes. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Von einem Tag auf den anderen war dieses Farbwunder geschehen und hat mir einen der schönsten Frühlinge meines Lebens beschert.
Und als ich in der Küche das Wasser aus der Leitung fließen ließ – welch ein Luxus! -, um mir den mitgebrachten Tee aus Ceylon aufzubrühen, hing dieser Wilhelm Leibl an der Wand. Da wußte ich, wo ich gewesen und wohin ich zurückgekehrt war. Doppeltes Glück: Die Tropen des indischen Subkontinents waren zur Erinnerung geworden. Und ich war wieder hier.
Es gibt so viele Welten auf unserer Erde. Alle zu einer Zeit.

Redaktion: Frank Becker