Ein musikalischer Spuk (6)

von Christopher Pearse Cranch

Ein musikalischer Spuk (6)
 
Von Christopher Pearse Cranch
 
Am nächsten Morgen eilte er zu seinem Stahlsafe, um sich mit eigenen Augen betreffs der Banknote zu vergewissern, von der er auf so unheimliche Weise geträumt hatte. Zu seiner Bestürzung und zu seinem Schmerz war sie verschwunden. An ihrem Platz befand sich ein Stück verkohltes Papier.
Der Leichenbestatter verlor sich in endlosen Spekulationen über sein seltsames Abenteuer und glaubte nach allem, was geschehen war, langsam selbst, daß teuflische Hexerei im Spiel gewesen sein müsse. Eines Tages jedoch, als er gerade das Gemeindebuch studierte, stieß er bezüglich dieser alten italienischen Familie auf einige bemerkenswerte Tatsachen. Er verglich die Eintragungen mit den Erinnerungen von ein oder zwei der ältesten Einwohnern von Boggsville und reimte sich daraus folgende Geschichte zusammen:
Signor Domenico Pietri, der aus einer alten Adelsfamilie stammte, hatte vor ungefähr einem halben Jahrhundert in dieser Stadt gelebt. Er war von ungeselliger, mürrischer Natur und dabei sehr stolz. Sein Einkommen war spärlich, und Ludovico, sein einziger Sohn, der über ein außerordentliches musikalisches Talent verfügte, beschloß sein Glück in den größeren Städten zu versuchen. Er spielte den Kontrabaß, und es hieß, daß er auf diesem Instrument Wunderbares leistete. Sein Vater widersetzte sich einer solchen Karriere, sei es aus Gründen des Familienstolzes, sei es, weil er seinen Sohn zwingen wollte, sein Glück im Handel zu suchen.
Eines Tages, es war gerade ein erbitterter Streit zwischen den beiden entbrannt, verbannte er ihn aus seinem Hause. Man wußte in Boggsville kaum etwas über Ludovico Pietri. Er führte ein unstetes Wanderleben in großer Armut. Schließlich verloren sich alle seine Spuren. Der alte Mann starb und wurde, zusammen mit anderen Verwandten, in der italienischen Gruft beerdigt. Die Kirchenoberen hatten das Begräbnis gestattet, da Signor Domenico dem Römisch-Katholischen abgeschworen und sich den Protestanten angeschlossen hatte.
Aber es macht noch immer eine Geschichte die Runde in dem Städtchen: die Geschichte eines hochtalentierten Virtuosen auf dem Kontrabaß, der eine so wilde, leidenschaftliche Musik spielte, daß ihm eines Nachts der Teufel in seiner engen Kammer erschien und ihm einen großen Sack Gold für sein Instrument versprach. Gleichzeitig schlug er ihm vor, einen Kontrakt zu unterzeichnen, demzufolge der Musiker sich verpflichtete, zeit seines Lebens nie mehr den Baß zu spielen, ausgenommen auf ausdrücklichen Geheiß des Teufels. Der arme Musiker akzeptierte den Vorschlag und unterzeichnete den tückischen Kontrakt. Daraufhin machte sich der Teufel mit dem Kontrabaß aus dem Staub. Der unglückselige Musiker aber bereute später diesen Schritt und nahm sich die Folgen so zu Herzen, daß er wahnsinnig wurde und starb.
Nun, ob der seltsame Besucher in Mr. Shrowdwells Bestattungsunternehmen ein lebender Mensch oder der Geist des bedauernswerten Wahnsinnigen gewesen war - diese Frage konnte nie zufriedenstellend aus der Welt geschafft werden.
Einige hoffnungslose Skeptiker sagten, daß der überdimensionale Geigenkasten eine Kiste mit Nitroglyzerin oder explosivem Pulver oder gar eine Höllenmaschine gewesen sei; andere wiederum glaubten fest daran, daß in der ganzen leidigen Geschichte etwas Übernatürliches und Unheimliches am Werk gewesen sei eine philosophische Theorie über diesen Fall wagte indes niemand aufzustellen.
Und was den Leichenbestatter betrifft, so war er sein ganzes Leben lang von so abgrundtiefem Mißtrauen erfüllt, daß er schließlich zu dem Schluß kam, er müsse geträumt haben, als er jenes Abenteuer im Friedhof erlebte; und dies trotz der wiederholten Erklärungen von William Spindles und der anderen beiden jungen Männer, daß sich alles genauso ereignet habe, wie in meiner Erzählung geschildert.
 
Christopher Pearse Cranch (1813-1892)