Ein musikalischer Spuk (5)

von Christopher Pearse Cranch

Ein musikalischer Spuk (5)
 
Von Christopher Pearse Cranch
 
Als er sich der Gruft näherte, beobachtete Shrowdwell erstaunt, daß die Tür offen stand. Helles phosphorizierendes Licht beleuchtete das Innere. „O Gott“, sagte er, „der arme Wahnsinnige hat es irgendwie geschafft, sich einen Schlüssel für die Gruft zu besorgen, und nun ist er hineingegangen, um Selbstmord zu begehen und sich eigenhändig in diesem verrückten Sarg zu bestatten, um solchermaßen die Ausgaben für einen Leichenbestatter zu sparen. Ich muß ihn nach Möglichkeit vor einem solchen Schicksal bewahren.“ Während er nachdenklich nahe der Gruft stehenblieb, vernahm er wieder diese gespenstische Musik. Sie tönte nicht nur aus der Gruft, sondern von überall her. Da war das rauhe Stöhnen eines Kontrabasses, dem das tiefe, gedämpfte Klagen von Hörnern und hin und wieder das Gekreisch von Flöten antwortete, vermischt mit dem pathetischen Weinen einer Geige. Shrowdwell glaubte zu träumen, rieb sich die Augen und kniff sich in die Ohren, um sich zu überzeugen, daß er wach war. Nach einiger Zeit des Zusammenspiels fingen die Instrumente an, den Kontrabaß in einem Solo zu begleiten.
Der Klang war so unheimlich und zugleich so wundervoll wie eine menschliche Stimme. Shrowdwell kam es vor, als wäre er in einen Zauberkreis geraten. Als das Solo sich seinem Ende zuneigte, brach die Stimme in Schluchzen aus und stieß einen tiefen Seufzer aus. Der Leichenbestatter nahm all seinen Mut zusammen und beschloß, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Er trat noch näher an die Gruft heran und blickte hinein - und was sah er? Den großen musikalischen Sarg des leichenhaften Fremden, der gleich beim Eingang zur Gruft stand.
Der Leichenbestatter war davon überzeugt, daß nur der seltsame Gentleman das Solo aufgeführt haben konnte. Aber wo war das Instrument? Er sammelte seinen letzten Mut, um sich einige beruhigende und aufmunternde Worte vorzusagen, aber beim ersten Ton schloß sich der bis dahin offene Deckel des musikalischen Sarges so plötzlich, daß der Leichenbestatter drei Fuß zurücksprang. Beinahe wäre er über einen Grabstein gestolpert. Im gleichen Augenblick erlosch das düstere, phosphorizierende Licht in der Gruft. Der Kontrabaß im Sarg stieß einen neuen Seufzer aus. Shrowdwell beschloß, den Kasten zu öffnen. Er bückte sich darüber und lauschte. Er glaubte im Innern einen Ton zu hören, als ob jemand einen Schlüssel in ein Vorhängeschloß steckte. „Er kann sich doch nicht selber einschließen“, sagte er und ríß den Deckel mit einem plötzlichen Ruck auf.
Unmittelbar darauf vernahm er Lärm, als risse eine Saite und krachte gegen Holz - dann ein seltsam schriller Ton - schließlich ein lauter Knall. Der Leichenbestatter fiel besinnungslos zu Boden.
Mrs. Shrowdwell wartete bis spät in der Nacht auf ihren Gatten, aber er kehrte nicht zurück. Sie wurde immer ängstlicher und faßte zu guter Letzt den Entschluß, ihre Haube aufzusetzen, einen Schal umzulegen und zu Mr. Spindles Pension zu gehen, um in Erfahrung zu bringen, wo ihr Gemahl sein könnte. Aber dieser junge Gentleman, der gerade im Begriff war, sich zu Bett zu begeben, befand sich in einem äußerst nervösen Zustand, obwohl er einen kräftigen Schluck Whisky mit Wasser zu sich genommen hatte, um sein gestörtes Gleichgewicht wieder herzustellen.
Mrs. Shrowdwell teilte ihm ihre Sorgen mit, woraufhin Spindles ihr einiges von den Ereignissen des Abends erzählte. Sie drängte ihn sogleich, mit ihr zur nächsten Polizeistation zu gehen und zwei oder drei Stadtpolizisten anzufordern, um mit Laternen und Pistolen den Friedhof abzusuchen, was nach etlichen Verzögerungen und Versprechungen auch geschah.
Endlich fanden die Wachmänner jenes Grabmal, vor dem der arme Shrowdwell in besinnungslosem Zustand auf seinem Rücken lag. Sie schickten nach einem Arzt, der ihm einige anregende Mittel verordnete, welche den arg mitgenommenen Leichenbestatter allmählich zur Besinnung und wieder auf die Beine brachten. Einen klaren Bericht über sein Abenteuer vermochte er allerdings nicht zu geben. Die Tür zur Gruft war geschlossen, das Mondlicht fiel mild auf die weißen Steine, kein Ton war zu hören außer dem Wind, der sanft in den Pinien und Zedern spielte. Sie brachten ihn nach Hause und stellten, zur großen Freude seiner Gattin, dort fest, daß er unverletzt geblieben war. Zwar versuchte er noch etwas Licht in die dubiose Affäre zu bringen und erzählte ihr von der Banknote, die er für den musikalischen Sarg erhalten hatte, fiel indessen bald in einen tiefen Schlaf.
 
 
Lesen Sie morgen den unheimlichen Schluß dieser herrlichen Gruselgeschichte ...