Die geheuchelte Empörung über den Antisemitismus

Ein Kommentar

von Ulli Tückmantel

Foto © Anna Schwartz
Die geheuchelte Empörung
über den Antisemitismus
 
Von Ulli Tückmantel
 
Man müsse sich schämen, wenn auf den Straßen deutscher Städte so offen Judenhaß zur Schau gestellt werde, erklärte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag, und fügte hinzu, die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit sei „kein Freibrief für antisemitische Entgleisungen, für Hetze und für Gewalt“. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) legte ebenfalls schon am Montag nach: „Wir wenden uns gegen alle Formen des Antisemitismus und des Fremdenhasses.“ Und: „Der Staat muß mit allen Mitteln des Rechtsstaats dagegen einschreiten.“
   Das ist erstaunlich. Denn es gibt in Deutschland keine Rechtsgrundlage, die das Verbrennen selbstgebastelter Fahnen mit einem Davidstern darauf verbieten würde. Und es gibt diese Rechtsgrundlage deshalb nicht, weil die Bundeskanzlerin es in den vergangenen zwölf Jahren ihrer Amtszeit nicht für nötig befand, „Mittel des Rechtsstaats“ in Form von Gesetzen zur Verfügung zu stellen. Im Gegenteil wurde Antisemitismus jahre- und jahrzehntelang verharmlost, verleugnet oder als angeblich legitime „Israel-Kritik“ geduldet.
   Als am Wochenende arabisch- und muslimischstämmige Demonstranten in Berlin unter anderem Transparente mit der Aufschrift „Kindermörder Israel“ zeigten, fand die Politik auch dies einhellig empörend – während die Berliner Polizei nicht einschritt. Genau wie mitten in Köln Polizei und Politik länger als ein Jahrzehnt angestrengt darüber hinwegsahen, daß der 2016 verstorbene Antisemit Walter Herrmann mitten auf der Domplatte mit einer sogenannten Klagemauer Juden als Kindermörder verunglimpfte; das war halt legitime „Israel-Kritik“.
   Als das Landgericht Frankfurt jüngst entschied, die Fluggesellschaft Kuwait Airways müsse keine israelischen Staatsbürger befördern, gab es einen kurzen Aufschrei der Empörung – sonst nichts. Es forderte niemand, die Richter für ihre Urteilsbegründung zum Idiotentest zu schicken: Der Kläger könne sich nicht auf das Antidiskriminierungsgesetz berufen, so die Richter, denn das beziehe sich nur auf Benachteiligung aus Gründen von Rasse, ethnischer Herkunft und Religion – nicht aber auf seine israelische Staatsbürgerschaft. Auch hier fehlten dem Rechtsstaat die Mittel, die er nicht schuf.
   Noch 2009 ging der Wahnsinn so weit, daß die Duisburger Polizei während einer Demonstration der islamistischen Organisation Milli Görüs gegen den Gaza-Krieg eine Wohnung stürmen und eine Israel-Fahne aus dem Fenster entfernen ließ, weil die Haß-Parolen schreienden Hamas-Anhänger sich davon gestört fühlten.
   Einer der Tiefpunkte war erreicht, als das Wuppertaler Landgericht 2015 drei angeblich betrunkene junge Palästinenser nach einem Brandanschlag auf die Wuppertaler Synagoge mit der Begründung zu Bewährungsstrafen verurteilte, es gebe keine Anhaltspunkte für eine antisemitische Motivation. Die drei Israel-Kritiker hätten lediglich die Aufmerksamkeit auf den zum Tatzeitpunkt 2014 tobenden Gaza-Konflikt lenken wollen. In der deutschen Kriminalstatistik werden – dieser Logik folgend – antisemitische und antiisraelische Straftaten gesondert registriert.
   Josef Schuster, Zentralratsvorsitzender der Juden in Deutschland, hat gestern zurecht darauf hingewiesen, daß die Bilder vom Wochenende lediglich ein Déjà-vu waren, das Erinnerungen an die Ausschreitungen 2014 wachrufe. Auch damals hätten Politiker parteiübergreifend bis hinauf zur Bundeskanzlerin versichert, daß es nie wieder öffentlich skandierten Judenhaß in Deutschland geben dürfe und sie gegen Antisemitismus entschieden einträten. Schuster: „Jetzt nehmen wir sie beim Wort! Politik und Sicherheitsbehörden müssen klare Kante zeigen gegen Antisemitismus, auch gegen jenen, der sich als Kritik an Israel oder den USA tarnt.“
   Man muß nicht soweit gehen wie Karl Lagerfeld, der im November im französischen Fernsehen erklärte: „Selbst wenn Jahrzehnte dazwischenliegen, kann man nicht Millionen Juden töten und später dann Millionen ihrer schlimmsten Feinde holen.“ Unbestreitbar ist, daß es einen importierten arabisch-islamischen Antisemitismus in Deutschland gibt, der ein zunehmendes Problem darstellt. Zur Wahrheit gehört aber auch: Die meisten antisemitischen Straftaten in Deutschland werden von Deutschen begangen.
   In Zeiten einer gefühlten „Flüchtlingskrise“ fällt es der Politik und großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit offenbar leichter, sich lauthals über Antisemitismus zu empören, wenn die haßerfüllte Judenfeindlichkeit einmal nicht bloß von deutschen, sondern von arabisch- oder muslimischstämmigen Demonstranten auf deutschen Straßen vorgetragen wird. Wer Antisemitismus in Deutschland als ein lediglich importiertes, nicht aber als gefährliches gesamtgesellschaftliches Problem wahrnehmen will, ist bloß ein Heuchler.


Der Kommentar erschien am 15. Dezember 2017 in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.