Ist das Kunst oder kann das weg?

„The Square“ von Ruben Östlund

von Renate Wagner

The Square
(Dänemark/Deutschland/Frankreich/Schweden 2017)

Regie: Ruben Östlund
Mit: Claes Bang, Elisabeth Moss, Dominic West u.a.
 
Die Skandinavier sind anders, man merkt es, wenn man in ihren Ländern reist. Sie wirken aufgeschlossener, liberaler, lockerer, freundlicher – und sind es teilweise wohl auch. Aber dieses (auch spürbare) Bemühen, sich richtig zu verhalten, hat seinen Preis. Und davon – in viele Themenstränge auseinander dividiert und wieder zusammen gebunden – handelt dieser Film des schwedischen Filmemachers Ruben Östlund, heuer in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet und wohl auch noch für einen Auslands-„Oscar“ gut. Denn hier geht es um ein ganzes Bündel von Problemen, eines interessanter als das andere, perfekt geknüpft an die zentrale Figur.
 
Er heißt Christian, ist vielleicht an die 40, sieht gut aus, was heutzutage auch dazu gehört, hat Macht und Prestige – und ist trotzdem kein A-Loch. Vielmehr versucht er aufrichtig, alles richtig zu machen, und stolpert über alle Fallen, die das Leben einem legen kann.
Daß Christian Museumschef ist, ist für die „Titelstory“ nötig: „The Square“ – ein Quadrat am Boden – ist Zentrum eines für unsere Tage typischen Kunst-Projekts, wo vor allem eine „moralische“ Idee dahinter stecken muß: ein Quadrat, das jedem Schutz bieten soll, der es betrifft, das zur Mitmenschlichkeit auffordert, all die Dinge, die so leicht postuliert und in der Realität so schwer durchgeführt werden. Da kann man die Museumsbesucher schon beim Eintritt maßregeln, indem man sie zwingt, sich per Knopfdruck dafür zu entscheiden, ob sie ihren Mitmenschen vertrauen oder nicht – wie viele wagen da schon, nein zu sagen?
Aber wie ist das in der Realität, wenn man Bettlern gegenüber ablehnend den Kopf schüttelt – und sich dann von der Unverschämtheit einer Sandlerin klein kriegen läßt, die in einem Imbißladen noch unverschämt „bestellt“, was der reiche Mann ihr mitbringen soll – und das Sandwich ohne Zwiebel. Und ohne Dank genommen. Da brodelt die Abneigung zwischen den sozialen Schichten so richtig auf. Wie überall.
 
Und wie ist das, wenn eine junge Frau schreiend über den Platz rennt und offenbar Hilfe vor einem Verfolger sucht? Christian weiß nicht recht, was er tun soll, will sich eigentlich nicht einmischen, nicht belästigt werden, hält die Frau dann doch schützend fest – und stellt später fest, daß alles weg ist: Handy, Geldtasche, die Manschettenknöpfe, die er vom Großvater geerbt hat… Nicht so leicht mit der Mitmenschlichkeit, wenn diese locker ausgenützt wird.
Manche Kritiker fanden den Handlungsstrang, wie Christian versucht, in Alleinregie sein Handy wieder zu bekommen, humoristisch, aber er ist es überhaupt nicht. Zuerst die Erkenntnis, daß man sich nur selber helfen kann. Er setzt einen jungen Mitarbeiter (ein Migrant, die in dieser Gesellschaft selbstverständlich dazu gehören) an den Computer und läßt ihn sein Handy orten. (Bei uns wäre er für diesen privaten Mißbrauch von Arbeitskraft vermutlich mit Compliance-Strenge rausgeflogen.) Schließlich findet sich das Handy in einem großen Wohnhaus in einem „schlechten“ Viertel (in der Nähe des Imbißladens) – und was nun? Zettel drucken, auf denen steht, man wisse, Ihr habt die Sachen gestohlen, aber wenn sie im Laden abgegeben werden, läßt man die Sache auf sich beruhen. Und diese Zettel in jede Wohnungstür stecken… (Das mag der vollmundige junge Mitarbeiter übrigens plötzlich doch nicht tun, der Chef muß selbst ran, was er gar nicht gerne hat – Unangenehmes delegiert man schließlich.)
Die Methode funktioniert sogar, hat aber ein echt tragikomisches, vom Regisseur breit ausgewalztes Nachspiel – von einem tobenden kleinen Migranten-Jungen, der Christian nun vorwirft, er werde jetzt für einen Dieb gehalten, und der eine Entschuldigung verlangt, sonst würde er „Chaos“ machen. Was er auch tut, das mit der Entschuldigung klappt dann so doch nicht… und wird peinlich und traurig, wie so vieles an Christians Geschichte.
 
Auch der One-Night-Stand mit der Journalistin Anne (Elisabeth Moss), wobei die beiden am Sex nicht den wahren Spaß zu haben scheinen. Daß sie dann unbedingt das Kondom mit seinem Sperma haben will und nachher Christian bezüglich eine „Beziehung“ zur Rede stellt, was er nie im Sinn hatte… unglückselig, lästig, weil gänzlich unerwartet, aber er weiß natürlich, daß er sich anständigerweise damit auseinandersetzten muß.
So, wie er sich um seine beiden kleinen Töchter kümmern muß (von einer Mutter erfährt man nichts), sie aber im Kaufhaus verliert, weil er natürlich am Handy hängt, und dann seine Einkäufe einem Bettler als Hüter anvertrauen muß, um die Mädchen zu suchen… „Können Sie mir helfen?“ fragt der elegante Herr im Anzug den Migranten, der in demütiger Pose am Boden liegt…
Und natürlich geht es im Leben des Museumsmannes (wenn er auch vom Problem des Wiederfindens seines Handys sehr abgelenkt ist) um Kunst, um die moderne Kunst von heute, die er persönlich durchaus nicht unreflektiert betrachtet. („Ist alles, was im Museum steht, Kunst? Ist eine Handtasche, wenn ich sie dorthin stelle, Kunst?“) Wenn das Kunstwerk aus aufgehäufelten Erdhügeln besteht und, um Gottes Willen, einer davon „beschädigt“ wird, will er nicht, wie seine Mitarbeiter, großen Wirbel machen und die Versicherung verständigen, sondern befiehlt einfach (und vernünftig), den Hügel heimlich, still und leise neu zu machen…
Ein Kunst-Event muß natürlich auch „verkauft“ werden, und Christian, den Kopf voll von anderen Dingen, hört kaum zu, wenn zwei junge Mitarbeiter überlegen, wie man am provokantesten für das „Square“-Objekt werben kann. Wo sehen die meisten Menschen hin? Ein Kind. Ein Bettlerkind. Ein blondes Bettlerkind. Im Quadrat. Und dann sprengt man es in die Luft. Christian weiß von nichts, als dieses Video auf YouTube erscheint und zahllose Male angeklickt wird, aber er ist verantwortlich. Es kostet ihn seinen Job. Er trete freiwillig zurück, sagt er, worauf ach so liberale Journalisten fragen, ob das die Grenzen seiner Toleranz seien?
 
Ja, der Liberalismus: Selbstverständlich ist unter den Mitarbeitern ein Mann, der in unserer Welt längst in Pension geschickt worden wäre, und niemand sagt etwas, wenn ausgerechnet dieser alte Mann ein Baby (sein Baby?) zu einer Besprechung mitnimmt. Bei einem öffentlichen Interview mit einem Künstler (Dominic West) beginnt im Publikum ein Mann mit Tourette-Syndrom zu schimpfen. Hierzulande würde man ihn höflich entfernen. Dort wird jemand, der leisen Unmut über die Störung äußert, scharf zurechtgewiesen, es handle sich schließlich um einen kranken Menschen… Und wenn schließlich als provokante Kunst-Aktion ein „wilder Mann“, der sich wie ein Menschaffe gebärdet, auf eine luxuriöse Abendgesellschaft losgelassen wird – wie lange dauert es, bis man zu reagieren wagt, als der Mann alle Grenzen überschreitet und fast zu einer Vergewaltigung ansetzt? (Da bleibt die Gesellschaft allerdings länger stockstarr, als man es für glaubhaft halten möge.) Ruben Östlund ist zum Thema heutigen Verhaltens und Verhaltens-Unsicherheit sehr viel eingefallen…
 
Und als Christian trägt der dänische Schauspieler Claes Bang alle Schicksalsschläge zweieinviertel Kinostunden lang mit aller Würde, die er aufbringen kann. Nie überdreht, nie als lustig Leidender, nie demonstrativ. Bestenfalls gestresst. Der Intellektuelle ist der Prügelknabe der Gesellschaft, nicht aber des Films. Einmal wurde am lebenden Beispiel – mit Humor, aber ohne Häme – gezeigt, wie schwer es ist, sich so richtig zu verhalten, „wie es im Buch steht“.
 
Trailer    

Renate Wagner
 Redaktion: Frank Becker