Vielschichtiges Lesevergnügen

Daniel Kehlmann - „Tyll“

von Johannes Vesper

Vielschichtiges Lesevergnügen
 
Daniel Kehlmann :Tyll
 
Der Roman spielt im 30jährigen Krieg, also während der nach der Pestepidemie im 14. Jahrhundert zweiten der großen Katastrophen in Deutschland. Drei Jahrzehnte zogen 1618-1648 marodierende Söldner und Landsknechte aus ganz Europa, folternd, vergewaltigend und tötend durchs Land. Typhus, Ruhr, Pest und Hunger taten das Ihre. Ca. 30% der Bevölkerung des Reiches kamen vermutlich damals um (also geschätzt 6 Millionen), allein 25.000 am 20.05.1631 bei der ersten Zerstörung Magdeburgs. Die Zahl der Toten klingt fast harmlos gegenüber den ca. 200.000 Toten bei der Bombardierung der Stadt am 16. Jan. 1945! Welch ein Fortschritt. Der Krieg bzw. die Kriege von 1618-48 bilden ein Urtrauma der Deutschen. Wallenstein, Mutter Courage, Faust, der fliegende Maikäfer haben Eingang gefunden in die deutsche Literatur. Wer kämpfte hier gegen wen? Nur Religionen? Der katholische Kaiser kämpfte gegen Protestanten und ständische Verfassungsfeinde, das katholische Frankreich mit dem protestantischen Schweden gegen das katholische Habsburg, Nordeuropa (Schweden) gegen Südeuropa. Die Gemengelage und Interessen der Mächte waren unübersichtlich und kompliziert. Die Analogie zur heutigen Situation in der Welt fällt ins Auge: Religionskriege, religiös bedingte Machtpolitik und regionale Interessenskonflikte können auch in Arabien nicht eingegrenzt werden. Syriens Staatlichkeit ist verschwunden im Kriegschaos regionaler, angeblich religiös motivierter lokaler Machthaber. Wirtschaftliche Interessen von waffenliefernden Staaten und die miteinander konkurrierende Weltmächte schüren den Konflikt, und der Zusammenbruch der Zivilisation muß befürchtet werden, wenn USA und Nordkorea nichts tun, um einen Atomkrieg zu vermeiden. Daniel Kehlmann kann also mit der aktuellen Weltlage einen Roman über den dreißigjährigen Krieg gut begründen.
 
Wie kommt Tyll (Till Eulenspiegel) in den Roman bzw. sogar auf das Titelblatt? Eigentlich gehörte er ins 15. Jahrhundert, aber ein Roman ist ja kein Geschichtswerk, und Phantasie ist in der Literatur gefragt. Tyll findet als Intellektueller, Spötter, Satiriker, Trickser seine Rolle in dem Roman. Die Leichtigkeit seiner Existenz fasziniert. Als Seiltänzer tut er wirklich, was er will, glaubt nichts, gehorcht keinem und sagt allen, auch saublöden Fürsten, königlichen Grundwiderlingen und Riesenwanstlingen seine abfällige Meinung über sie ins Gesicht. Er inszeniert lachend Massenprügeleien, indem er seine Zuschauer um ihre Schuhe kämpfen läßt. Er versucht einem Esel die deutsche Sprache beizubringen. Zeitweise lebte er am Hofe der Tochter Maria Stuarts, die Friedrich V. von der Pfalz geheiratet hat. Der Heidelberger war wahrscheinlich für den ganzen Kriegschlamassel überhaupt verantwortlich, weil er gerne König werden wollte und für die protestantischen böhmischen Stände, die die kaiserlichen Statthalter in Prag kurzerhand aus dem Fenster geworfen hatten, einen Winter lang den König spielte. Tyll schenkte der neuer Königin von Böhmen zum Einstand ein Bild, bzw. eben kein Bild sondern eine weiße Leinwand, welche gerahmt in Thronsaal hing. Mit der Magie des Bildes, nach welcher es nicht sichtbar war für Dumme, für unehelich Geborene, für Diebe, Betrüger, Galgenvögel oder Ärsche mit Ohren, kam der böhmische Hof schlecht zurecht. Er befindet sich damit in bester Gesellschaft, weil ja von den Berichten über Kunstbetrug, Fälschung, Inkompetenz der Experten und Unsicherheit des Publikums gegenüber nichtssagender Kunst heutzutage die Gazetten leben.
 
Kehlmann beschreibt Bilder aus dem großen Krieg, beschreibt, wie bei Zusmarshausen, bei der letzten offenen Feldschlacht des Krieges, das kaiserliche Heer mit Kanonenstellungen, eingegrabenen Musketieren, und in Hundertschaften stehenden Pikenieren die vereinigte schwedische und französische Reiterei erwartet, die über eine kleine Brücke angreifen wollte. Rauchwölkchen steigen auf, die Brücke ist zerstört und der Leser sieht förmlich zur Rechten wie zur Linken einen halben, von Granaten geteilten Beobachter der Szene vom Pferde sinken. Der Autor ist natürlich kein Kriegsberichterstatter, sondern schöpft aus seiner Fantasie und orientiert sich an Berichten und Bildern aus dem Krieg. Das Grauen des Krieges wird in diesem Roman schnörkellos erzählt und entfaltet so eine starke Wirkung. An Folter, Hexenprozessen und Inquisition nimmt der Leser teil, als wäre er dabei. Und die Wissenschaft? Die trägt zum Frieden nicht bei. Der bedeutendste Gelehrte des 17. Jahrhunderts, Athanasius Kirchner, vermutet als Drakontologe in Dithmarschen Drachen, weil dort noch nie welche gesehen wurden. Abstruse Gedankengänge wie sie aber auch heute noch in der Homöopathie wabern, wenn von nicht vorhandenen oder jedenfalls nicht nachweisbaren Substanzen stärkste pharmakologische Wirkungen erwartet werden. Dabei weisen Kirchners Gedankenexperimente schon auf Aufklärung und Neuzeit hin. Und die moderne Diplomatie beginnt vielleicht bei den Verhandlungen zum Frieden in Westfalen.
 
Der Roman bietet großes Lesevergnügen. Vielschichtig erzählt Daniel Kehlmann seine tiefsinnigen, grausigen, teilweise humorigen Geschichten und spiegelt mit seinem Rückgriff auf das 17. Jahrhundert das aktuelle Weltchaos außerhalb Europas einerseits - andererseits aber leben heute die Völker auf dem ehemals größten Schlachtfeld der Erde in Frieden miteinander und arbeiten in der EU politisch und militärisch zusammen. Das läßt hoffen!
 
Daniel Kehlmann - „Tyll“
Historischer Roman
© 2017, Rowohlt Verlag, 473 Seiten, gebunden - ISBN 978 3 498 035679
22,95 €
 
Weitere Informationen: www.rowohlt.de