Dinge, die man sich gar nicht vorstellen konnte...

„Die Unsichtbaren – Wir wollen leben“ von Claus Räfle

von Renate Wagner

Die Unsichtbaren –
Wir wollen leben
(Deutschland 2017)

Regie: Claus Räfle
Mit:
Max Mauff, Alice Dwyer, Ruby O. Fee, Aaron Altaras, Robert Hunger-Bühler u.a.
 
Wer im Jahre 1943 zwischen 17 und 20 Jahre alt war, ist heute hoch in den Neunzigern oder tot. Dennoch gibt es in diesem Film, der vom Überleben von vier Juden als „U-Boote“ im Hitler-Berlin handelt, Zeitzeugen, die in erstaunlicher Frische von ihrem damaligen Leben berichten. Das ist nur möglich, weil der bekannte Dokumentarfilm-Regisseur Claus Räfle die Interviews mit diesen Zeitzeugen schon vor acht Jahren geführt hat (mittlerweile sind zwei von ihnen verstorben, wie man im Nachspann liest). Schon damals plante er eine Dokumentation zu dem Thema, aber es war offenbar nicht die richtige Zeit.
Nun legt Räfle eine ebenso ausgewogene wie spannende und informative Mischung aus den Dokumentar-Interviews und nachgestellten Spielszenen vor – und daß das Ganze nie künstlich hochdramatisch oder tränentriefend aufgebauscht werden kann, liegt an der bewundernswerten Gelassenheit, mit der die vier Juden über ihr damaliges Leben im Berliner Untergrund reflektieren.
 
Und das war nun dramatisch genug. Vier junge Juden (jeder Mann mußte bei den Behörden seinem Namen den zweiten Namen „Israel“, die Frauen „Sarah“ hinzufügen) beschlossen im Jahre 1943 in Berlin, alle zum Entsetzen ihrer Eltern und Verwandten, die demütig auf ihren Abtransport in den Osten warteten, den Judenstern abzulegen und sich quasi wie Deutsche unter Deutschen zu bewegen: Die Jungen nannten das „Flitzen“.
Was nicht so leicht war – man mußte bei jemandem unterkommen (die Hilfsbereitschaft der Kommunisten war groß, weil sie so ein wenig Widerstand gegen die Nazis leisten konnte), man mußte von diesen Leuten mitverpflegt werden, weil man ja keine Essensmarken hatte (wie viele Menschen war zu permanentem Hunger verurteilt), und man mußte für sich eine glaubhafte Rolle erfinden.
 
So wie Ruth Arndt (Ruby O. Fee), die sich als Kriegerwitwe ausgab und mit einer jüdischen Freundin, die gleichfalls die Identität gewechselt hatte, bei einem NS-Offizier arbeitete. Dieser hat, das ist eine der erstaunlichsten Tatsachen, immer gewußt, daß es sich bei ihnen um untergetauchte Jüdinnen handelte…
Die erblondete Hanni Levi (Alice Dwyer), die sich „Hannelore Winkler“ nennt und dann bei der Mutter eines Soldaten, der sich in sie verliebte, unterschlüpfen konnte und als „die Kusine vom Land“ durchging.
Oder Eugen Friede (Aaron Altaras), der buchstäblich von einer Familie zur nächsten weitergereicht wurde (Szenen, daß man sich im Kasten verstecken muß, sind in diesem Zusammenhang nicht lustig) und sich an Flugzettelaktionen gegen die Nazis beteiligte.
Am interessantesten aber ist die Geschichte von Cioma Schönhaus, aus der man einen großen, bunten Abenteuerfilm, fast mit Schelmencharakter, hätte machen können, so unglaublich mutet an, wie er überlebte (wobei Max Mauff ein hinreißender Darsteller ist, die Gehetztheit der dauernden Unsicherheit im ganzen Wesen): Cioma war an der Kunstschule gewesen, bevor man ihn entfernte, aber er nahm genug praktisches „Material“ mit, daß er Pässe fälschen konnte (die damals ein Vermögen wert waren) – was er für einen deutschen Auftraggeber tat (Robert Hunger-Bühler als Dr. Franz Kaufmann). Berliner meldeten ihre echten Dokumente als verloren und verkauften sie hier, und Cioma Schönhaus fälschte und fälschte, und nie hatte ihm eine Arbeit so viel Spaß gemacht…Zimmer fand er bei Frauen, die leerstehende Räume vermieteten, indem er stets vorgab, kurz auf Heimaturlaub und
ausgebombt zu sein.
 
Der Film zeigt die dauernden Ängste, unter denen diese Menschen litten, die stets Gefahr, sich irgendwie zu verraten, allein, indem sie dauernd darauf achten mußten, demütige Juden-Haltung abzulegen, die sie sich in schlimmen Jahren angewöhnt hatten, während es nun darum ging, forsch durchs Leben zu schreiten und bei jeder Gelegenheit „Heil Hitler“ zu sagen. Im schlimmsten Fall würde man von Menschen erkannt zu werden, die sie von früher kannten (es gab, wie man erfährt, jüdische Spitzel, die für die Gestapo arbeiteten – wohl auch nur, um sich selbst zu retten). Auch lebten sie, wie später die Ostdeutschen unter der Stasi, in einer Welt, wo jeder jeden beobachtete und man nie wirklich wußte, wem man vertrauen kann. Man sieht mit erschütternder Bewunderung, wie trickreich, mutig und frech sich diese jungen Juden durchs lebensgefährliche Leben schlagen mußten, und das in dem Gefühl, verrückt zu werden, weil man niemanden hatte, dem man sich anvertrauen konnte.
 
Immer wieder hat der Regisseur echte Dokumentarbilder von damals in seine Spiel- und Gesprächsszenen hineingeschnitten. Das alles verdichtet sich zu einem Bild, das nicht nur „Echtheit“ vermittelt, sondern auch neue Erkenntnisse, Dinge, die man sich gar nicht vorstellen konnte.
Wobei am Ende die Frage offen bleibt, vom echten Eugen Friede gestellt – wie konnte es sein, daß Menschen Mitmenschen regelrecht vernichten? Daß man die Juden vielleicht nicht leiden konnte, na gut. Aber auslöschen, ermorden, vertilgen… Das Wissen, daß die Hilfsbereitschaft vieler Deutscher, schweigend etwas gegen das Regime zu tun, größer war als man annahm, ist ein winziger Tropfen Trost.
 
 
Renate Wagner