Vom Drama, ein Opfer zu sein

Thomas Melles „Bilder von uns“ in Wuppertal

von Daniel Diekhans

Philippine Pachl - Foto © Uwe Schinkel

Vom Drama, ein Opfer zu sein
 
Thomas Melles „Bilder von uns“ in Wuppertal
 
Regie: Henri Hüster - Bühne und Kostüme: Hanna Rode - Choreographie: Sylvana Seddig - Fotos: Uwe Schinkel
 
Besetzung: Stefan Walz (Jesko) - Konstantin Rickert (Malte) - Martin Petschan (Johannes) - Alexander Peiler (Konstantin) - Julia Reznik (Lehrerin) - Lena Vogt (Bettina) - Philippine Pachl (Sandra)
 
Wuppertaler Schauspiel überzeugt mit vielstimmigem Erinnerungsprozeß
 
Der Kulturwissenschaftler Jan Assmann hat einmal geschrieben, daß über der Vergangenheit der Schleier der Erinnerung liege. Wie kann man etwas Ungreifbares und Abstraktes wie den Gedächtnis-Schleier auf der Theaterbühne darstellen? Es ist ganz einfach und überzeugt sofort bei der Wuppertaler Inszenierung von Thomas Melles Stück „Bilder von uns“, das bisher nur in Bonn und Regensburg lief. Im Theater am Engelsgarten braucht es nur einen halbtransparenten Vorhang. Wie das Gedächtnis offenbart er und verbirgt zugleich. Hinter dem Vorhang kann der Zuschauer schemenhafte Gestalten ausmachen. Die Schauspieler haben sich im Kreis zum Sprechchor zusammengestellt. Vielstimmig befragen sie die Erinnerung: „Was habe ich erlebt? Was hat meine Jugend mit mir gemacht?“
Dann löst sich einer, Stefan Walz, aus der Gruppe und zieht den Gedächtnis- Vorhang weg – schnell, energisch, brutal. In „Bilder von uns“ ist er der erfolgreiche Medienmacher Jesko. Walz gibt ihm die Statur eines Riesen im eleganten Anzug, auf den ersten Blick unbesiegbar. Später wird er den Vorhang noch eine Spur brutaler wieder zuziehen. Da ist „die Büchse der Pandora“, wie es im Stück heißt, längst geöffnet.


v.l.: Stefan Walz, Martin Petschan, Konstantin Rickert  - Foto © Uwe Schinkel

Um Jeskos wohlgeordnetes Leben zu zerstören, genügt ein kurzer Blick aufs Handy. Das Foto des nackten Jungen, das ihm anonym zugeschickt wird, zeigt ihn selbst. Bloß kein Opfer sein, sagt sich Jesko. Unbedingt will er wissen, von wem das Bild kommt. Also klappert er seine früheren Mitschüler vom katholischen Internat ab. Auch sie werden hingezogen in den Sog um die pornographische Nacktaufnahme. Jeder von ihnen muß erkennen, was ihre Schulzeit war: ein Abgrund aus seelischem und sexuellem Mißbrauch durch Priester und Lehrer.
Welten liegen zwischen Jeskos ehemaligen Schulfreunden – und auch zwischen ihrem Umgang mit der bitteren Wahrheit. Einen jungenhaften Werbefritzen verkörpert Konstantin Rickert. Die Erkenntnis des Mißbrauchs gibt ihm eine neue Sprache ein. Er redet von „Aufklärung“ und „Deutungshoheit zurückgewinnen“. Doch nachdem er diese großen Worte ausgesprochen hat, eilt er ziellos über die Bühne. So wirkt sein gut gemeinter Aktionismus befremdlich, sogar lächerlich.
 
Ganz anders reagiert der von Martin Petschan gespielte Rechtsanwalt. Der möchte genauso wenig Opfer sein wie Überflieger Jesko. Dazu paßt Petschans bewußt reduziertes Spiel, seine meist unbewegte Miene. Sprache ist ihm ein Mittel, um die Vorfälle an der alten Schule kühl-distanziert einzuordnen. Für ihn der erste Schritt auf dem Weg zur gelungenen Verdrängung.
Den hellsichtigsten Betroffenen spielt Alexander Peiler – und seine schauspielerische Leistung ist die größte an diesem Premierenabend. Wie einen Gott läßt ihn Regisseur Henri Hüster anfangs auf einem Sockel posieren. Doch wenn Peiler hinabsteigt und die Toga auszieht, wird deutlich, daß er nur ein Mensch ist. Groß und sportlich, aber innerlich gebrochen und haltlos. Anders als die alten Schulkameraden bringt Peiler messerscharf sein Opfer-Sein zur Sprache und gewinnt so zumindest ein Stück der verlorenen Würde zurück.


Ensemble - Foto © Uwe Schinkel

Auch wenn „Bilder von uns“ um die geschlossene Männerwelt eines Jesuiten- Internats kreist, sind die Frauen im Stück alles andere als Randfiguren. Präsent ist besonders Lena Vogt als Jeskos Ehefrau. Genau registriert sie die Veränderungen, die Stefan Walz durchläuft. Vogt fühlt mit ihm, versucht mit aller Macht, ihn ins alte Leben zurückzuholen. Zu spät. Die temperamentvolle, witzige Julia Reznik steht ein für die Hoffnung auf ein neues Leben. Nicht nur für Jesko, sondern auch für die Kinder, die die Lehrerin Reznik ohne Angst und Gewalt erziehen will. Philippine Pachl scheint zunächst nur an der Seite von Alexander Peiler zu agieren – als sein Schatten, seine zweite Stimme. Schritt für Schritt jedoch wächst die Größe ihrer Rolle. Bis am Ende ihre Perspektive auf die Vergangenheit zur alles entscheidenden wird.
 
Wenn Regisseur Hüster etwas vermeiden will, dann einen irgendwie gearteten Bühnen-Realismus. Letzterer würde auch schlecht zu Melles geschliffener, anspielungsreicher Sprache passen. Konsequent ist daher, daß Ausstatterin Hanna Rode den Brunnen in Bühnenmitte sowie den Gedächtnis-Vorhang in wechselnde Farbtöne taucht. In intimen Momenten, Träumen wie Alpträumen, verstecken sich die Schauspieler hinter ihren überlebensgroßen Masken. Dabei tanzen sie – dank Choreographin Sylvana Seddig – mal entrückt, mal in grotesken Zuckungen.


Ensemble - Foto © Uwe Schinkel

Thomas Melles „Bilder von uns“ ist wieder am 20. Oktober im Theater am Engelsgarten zu sehen. Es folgen Aufführungen am 22., 27. und 29. Oktober sowie am 5. und 17. November. Weitere Vorstellungen gibt es im Dezember, Januar und Februar.
 
Weitere Informationen: www.wuppertaler-buehnen.de