Vom freien Denken und Handeln

Lukas Hartmann - „Die wilde Sophie“

von Frank Becker

Angst – und wie man sie besiegt
oder
Vom freien Denken und Handeln
 
Dem Königspaar von Zipfelland, dem ängstlichen König Ferdinand und seiner klugen Frau Isabella wird nach langem Warten endlich ein Kind geboren, ein Sohn, wie ihn sich der dicke König zur Thronfolge gewünscht hat. Weil er aber so entsetzlich ängstlich ist und befürchtet, irgend etwas könnte dem kleinen Jan, so wird der Prinz genannt, zustoßen, läßt er ihn fast wörtlich zu nehmen in Watte packen. Alles, was ihn verletzen, woran er sich verschlucken, worüber er stolpern könnte wird entfernt. Jeder seiner Schritte wird von Vor-, Nebenher- und Hinterhergehern und anderen Dienern rund um die Uhr überwacht und vermeintlich geschützt. Frische und Zugluft sowie Sonnenlicht werden aus- und der Junge eingesperrt. Das Schloß darf er nicht verlassen, das Draußen, die Natur könnte ja schädlich sein. Die Sorge des Königs treibt noch weit skurrilere Blüten. Jan wird zu einem schmächtigen, verzärtelten, weil er aber viel liest, auch zu einem klugen Knaben. Jahre später und in einer gläsernen Kutsche darf Jan nur, weil er sich in unbezähmbarem Freiheitsdrang einmal in den Schloßhof geschlichen hat und dort von der alten Eiche aus einen Zipfel der Welt gesehen hat, ganz selten kurz hinaus, um wenigstens ein bißchen mehr von Zipfelland zu sehen.
Bei einer der Fahrten begegnet ihm, getrennt durch die gläsernen Wände der Kutsche, das gleichaltrige Mädchen Sophie, die Tochter des Pflaumenbauern, der das Schloß mit des Königs Lieblingskompott beliefert. Beide spüren ohne Worte ein tiefes Einverständnis - und da beginnt der abenteuerliche Teil der Geschichte…
 
Lukas Hartmann ist mit seinem fabelhaft erzählten Roman „Die wilde Sophie“ elegant, bunt und ereignisreich von der Hand gegangen, was nur wenigen gelingt: Er hat ein derart spannendes und kluges Buch für die jüngere Lesergeneration (vor- oder selbst gelesen) geschrieben, daß es ohne Abstriche auch die älteren Leser fesselt. Es bietet einerseits von der ersten bis zur letzten Seite prachtvoll unterhaltende, sprachlich genußvolle Lektüre mit raffinierten Wendungen, die neben den geschickt eingeschobenen Kapitelüberschriften die Spannung durchweg mustergültig hoch halten, zum anderen transportiert das Buch, das auf ein klares Ziel hin erzählt, kindgerecht verpackte Grundsätze der Vernunft, der Gerechtigkeit und des gesunden Menschenverstandes - Moral ohne Moralinsäure.
Mit den klassischen „Es war einmal“-Elementen des Märchens wie Schloß samt Verlies, Lakaien und Soldaten, Zauberei und ein wenig Hexerei, Naturwundern und dem Sozialgefälle zwischen Volk und König verbindet Lukas Hartmann die Anregung zum freien Denken, zum Erkennen von gesellschaftlichen wie menschlichen Fehlern – und nicht zuletzt zum Handeln. Der Roman ist eine Parabel auf den Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung, das natürliche Interesse an der Welt, das Ablegen von Angst als beherrschendes Mittel, über Menschenrecht- und pflicht, das zunehmende gesellschaftliche Phänomen der Überbehütung durch sogenannte „Helikopter-Eltern“ und Warnungen vor der Zerstörungen der Natur am Beispiel der alten Eiche und dem militärischen Mißbrauch der Macht, eindrucksvoll gezeichnet durch die Figur des Hauptmanns Roderick.
 
Hartmann ist ein präziser, fesselnder Erzähler, folgt keiner Masche oder schriftstellerischen Serie. Seine Bücher sind Unikate. So auch „Die Wilde Marie“. Wir haben ihn schon mit „Bis ans Ende der Meere“, „Finsteres Glück“, „Räuberleben“ und „Ein passender Mieter“ vorstellen dürfen. „Die wilde Sophie“ ist wieder ein großer Gewinn und eine Empfehlung an unsere jungen und älteren Leser. Die Illustrationen und Vignetten von Susann Opel-Götz trtagen einen wichtigen Teil dazu bei. Wir geben dem Buch besonders gerne unsere Anerkennung, den Musenkuß!
 
Lukas Hartmann - „Die wilde Sophie“
Roman, mit Illustrationen von  Susann Opel-Götz
© 2017 Diogenes Verlag, 250 Seiten, gebunden - ISBN: 978-3-257-01199-9
16,- €

Weitere Informationen: www.diogenes.ch