Ein Lehrstück für bürgerliche Kälte

„Wir töten Stella“ von Julian Roman Pölsler

von Renate Wagner

Wir töten Stella
(Österreich / 2017)
 
Drehbuch und Regie: Julian Roman Pölsler
Mit: Martina Gedeck, Matthias Brandt, Mala Emde, Julius Hagg, Alana Bierleutgeb u.a.
 
Die Bücher von Marlen Haushofer galten stets als typische Frauenliteratur, allerdings mit einer tragischen Marmonierung, die ihr Schreiben besonders machte und ihm fraglose literarische Qualität verlieh. Schon zum zweiten Mal, nach „Die Wand“, liest der österreichische Regisseur Julian Roman Pölsler einen Haushofer-Text für die filmische Umsetzung als Psychothriller, der seelische Schmerzen intensiv transportiert. Er will dies, wie er in einem Interview sagte, noch ein drittes Mal, mit Haushofers „Die Mansarde“, versuchen.
„Wir töten Stella“ ist ein Stück bürgerlicher Seelenkälte. Zu Beginn setzt sich Anna, die Frau, die diese Geschichte zuließ, Schuld eingesteht und das Geschehen reflektieren will, an das Tablet – eine sehr heutige Aktion, Marlen Haushofer (1920-1970) ist seit bald einem halben Jahrhundert tot, in ihrer Welt war die Digitaliseriung noch nicht einmal gedacht. Auch die Videosequenzen, die der Regisseur später eingefügt hat, wirken eigentlich fremd (und dramaturgisch nicht so völlig überzeugend).
 
Original Haushofer ist es, Anna erzählen zu lassen, immer wieder kommt die Stimme von Martina Gedeck aus dem Off. Sie ist schon im vorigen Haushofer / Pölsler-Film immer wieder „an die Wand“ gestoßen, sie darf hier noch viel mehr Verzweiflung offenbaren, viel mehr Gesichter zeigen: von der gepflegten Dame, Frau des über die Maßen erfolgreichen Scheidungsanwalts, von der gewissermaßen Bilderbuch-Mutter bis zum bleichen Gespenst, das teils von seinen Erinnerungen, teils von seiner Gegenwart gejagt wird.
Die Geschichte ist so einfach, daß es der vollen, eingebrachten Regiekünste bedarf, um sie zu sehen. Wir haben eine scheinbar perfekte Familie vor uns, wobei die besondere Bindung zwischen Anna und ihrem halb erwachsenen Spät-Teenager-Sohn Wolfgang besteht, während ihr Gatte Richard sich an Schulkind Anette hält. Ein Quartett, das funktioniert, wenn auch ohne besonderes Temperament (nimmt man das kleine Mädchen aus), und in das Stella gewissermaßen einbricht – wider Willen aller, das muß man eingestehen, sie wollen sich eigentlich nicht stören lassen. Aber eine Verwandte bittet, ihre junge Tochter, die an der Wiener Universität studiert, für zehn Monate aufzunehmen, die Villa ist wahrlich groß genug, warum also nicht.
 
„Störe ich?“ fragt Stella immer, weil sie spürt, daß sie es tut – Anna ist höflich, sagt „Sie“ zu ihr, aber niemand macht Anstalten, sie wirklich in die Familie aufzunehmen oder ihr gar mit etwas Wärme entgegenzukommen. Freilich – und das zeichnet der Film meisterhaft – entwickeln sich die Dinge schleichend, wobei Julian Roman Pölsler offen läßt, wie weit Anna die junge Stella, die sie aus ihrer Unscheinbarkeit erlöst (ein rotes Kleid hat immer Signalwirkung), in die Arme des Gatten treibt, dessen Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit sie kennt…
Als Zuschauer, der bei diesem Film schnell lernt, genau zu beobachten und kleine Zeichen zu lesen, weiß man bald Bescheid – Stellas Ausreden, warum sie Abends erst spät heimkommt, ihre zunehmende Verzweiflung, die unbeteiligte Eiseskälte des Mannes, der sie verführt hat und fallen läßt (zumal da offenbar eine Schwangerschaft dazu kommt), aber auch der starre Mangel an Empathie, den Anna angesichts der Situation zeigt, wo man doch erwarten würde, daß sie in die Ereignisse aktiv eingreift.
Relativ unschuldig, aber letztlich auch gleichgültig, reagiert die kleine Tochter auf die unausgesprochenen negativen Ströme in der Familie, während der Sohn sich absetzt – hier gibt es noch eine Parallelhandlung, daß im Gymnasium offenbar die „Ilias“ gespielt wird und sich Anna immer wieder sinnend am Computer einen Stream ansieht, wo Christa Wolf aus ihrer Novelle „Kassandra“ liest…
 
Manchmal überzieht Pölsler bei aller Stille, die er wahrt, die Vordergründigkeit der Dramatik, manchmal muß Martina Gedeck auch zu leichenbleich vor sich hin leiden, aber die unendliche Schwere der Geschichte ist der Vorlage geschuldet. Am eindrucksvollsten ist wohl Matthias Brandt in seiner absolut coolen Unberührbarkeit, seine Nüchternheit läßt kein Pathos zu. Dieser Anwalt spielt nicht eine Rolle im Leben, er ist er selbst, alles in seiner bürgerlichen Welt funktioniert, er will und braucht nicht mehr. Mala Emde darf das Leid Stellas auch nicht herausschreien, das würde die Spielregeln brechen, und ähnlich frißt Julius Hagg als Sohn Wolfgang das Unbehagen an der Situation in sich hinein, aus der er sich selbst durch freiwilligen Abgang in ein Internat befreit. Und die kleine Tochter (Alana Bierleutgeb als Anette): Wie sie auf die finale Katastrophe von Stellas Tod vor dem Lastwagen („Es war ein Unfall“, wird beschlossen) reagiert, erfährt man nicht. Stellas Freitod wird so still unter dem Tisch gekehrt, wie man ihre Existenz ignoriert hat.
 
Am Ende sitzt man starr vor Beklemmung in seinem Kinosessel. Ein Lehrstück für bürgerliche Kälte ist die Haushofer allzumal, und Pölslers Film erst recht.
 
 
Renate Wagner