Historisch vermintes Terrain

„Leanders letzte Reise“ von Nick Baker-Monteys

von Renate Wagner

Leanders letzte Reise
(Deutschland 2017)

Drehbuch und Regie: Nick Baker-Monteys
 
Mit: Jürgen Prochnow, Petra Schmidt-Schaller, Tambet Tuisk, Suzanne von Borsody u.a.
 
Die alte Frau – Großmutter, Mutter, Ehefrau – ist tot. Nach dem Begräbnis möchte die Tochter Uli (Suzanne von Borsody) den 92jährigen Vater Eduard Leander (Jürgen Prochnow, der in seiner introvertierten Stille tief beeindruckt) am liebsten ins Heim verfrachten, während es der Enkelin Adele (Petra Schmidt-Schaller) mehr oder minder egal ist, wie es weitergeht.
Eines aber steht jedenfalls fest: Der alte Mann hat einen eisernen Kopf. Jetzt, wo er „frei“ ist, will er zu seiner großen Reise in die Vergangenheit aufbrechen. Und weil sich die Tochter ja doch um ihn sorgt, schickt sie ihm die Enkelin (die ja in der Bar einen Job hat, bei dem sie auch mal wegbleiben kann) hinterher.
Da sitzen sie also im Zug, der sture, schweigsame Alte und die unwirsche Junge, und bewegen sich in Richtung Kiew. Die Ukraine, 2014 ein Land im Aufruhr (auch damals, als der Film gedreht wurde übrigens). Während der alte Leander dorthin zurück will, wo er als Wehrmachts-Offizier während des Krieges war (natürlich auf der Suche nach Svetlana, seiner damaligen Liebe), weiß die junge Frau nicht, was sie mit Großvaters Problem anfangen soll… Daß sie sich Opa dann nach und nach ein wenig annähert (trotz der ruppigen Manieren der heutigen Jugend), ist als Handlungstopos leider abgegriffen.
 
Natürlich geht es in diesem Film von Nick Baker-Monteys um die unbewältigte Vergangenheit. Die Deutschen in der Ukraine, Besatzer, Kriegsschauplatz gegen die Rote Armee, wobei sie viele Ukrainer als Verbündete fanden, denen die Deutschen das geringere Übel erschienen als die Russen. Leander hatte damals eine Kosaken-Division geführt (und er trifft später nur einen einzigen Überlebenden von damals, der unter ihm „gedient“ hat und die Dinge noch mit den damaligen Augen sieht: „Was hätten wir mit den Gefangenen tun sollen? Wir haben sie erschossen.“).
Welche Verbrechen geschehen sind, kommt zur Sprache, wenn Großvater und Enkelin dann tatsächlich bis in Svetlanas Dorf vordringen (und der Alte selbstverständlich seine Tochter findet – allerdings glücklicherweise ohne Sentimentalität). Das Verständnis, das man angesichts der damaligen Situation (historisches Denken!) von der nächsten Generation erhoffen könnte, findet allerdings nicht statt – die Enkelin darf sich nur in tränenreicher Anklage ergehen.
 
Wichtig ist die Figur, die schon im Zug nach Kiew eingeführt wird: Lew (großartig der estnische Schauspieler Tambet Tuisk), ein russischer Ukrainer oder ukrainischer Russe, wie immer man es nennen will – niemanden traf die politische Situation mit ihren Anschlußbestrebungen an Rußland hier, der staatlichen Unabhängigkeit in Richtung Europa schärfer. (Man würde sich übrigens als Kinobesucher für die vielen Passagen auf Russisch für den Film Untertitel wünschen!)
Natürlich kommt man in einem Ostblock-Land (mit minimalen Russisch-Kenntnissen des alten Leander) allein nicht weiter. Wenn Lew die beiden zu seiner Familie mitnimmt, dann ist das natürlich die Gelegenheit, die Probleme der gegenwärtigen Ukraine aufzuzeigen, allein in der Zerrissenheit in der Familie selbst (Lews Bruder kämpft für die russischen Separatisten). Daß einer weiß, daß er Russe ist wie Lew, seine Loyalität aber doch einer unabhängigen Ukraine gehört, versteht die eigene russische Familie nicht. Diese fragt bei aller Gastfreundschaft auch den alten Deutsche, was er „damals“ hier gemacht hat.
Lew bringt den alten Mann und die Enkelin (daß sich zwischen beiden eine Beziehung anspinnt, ist vom Drehbuch her offenbar unvermeidbar) in das Dorf, wo er zwar nicht Svetlana, die ist verstorben, aber deren (seine) Tochter findet und mit der ganzen Gastfreundschaft des Ostens aufgenommen wird.
 
Daß Tochter Uli ihrem Vater und ihrer Tochter ins Kriegsgebiet nachfährt, ist so dumm (als Handlung) wie überflüssig (für den Film), auch wenn man versteht, daß der Regisseur die „mittlere“ Generation einbringen will – sie hat hier nur keine wirkliche Funktion. Daß Leander, nachdem er seine Reise „erfüllt“ hat, im Auto stirbt, macht jegliche Lösung aufgeworfener Probleme obsolet. Wenn Lev und Adele sich am Flughafen umarmen und er verspricht, so bald wie möglich nach Deutschland zu kommen… man kann es nicht recht glauben.
Eine Reise durch ein zerrissenes Land – das atmet gegenwärtige Authentizität, man kann sich gut vorstellen, wie schlimm die Situation für die Menschen dort ist. Daß es bei Leander nicht in erster Linie um Reue bezüglich der Vergangenheit gegangen ist (die läuft gewissermaßen nebenbei), sondern um den Wunsch zu wissen, was mit Svetlana geschehen ist, die er in den Kriegswirren verloren hat, ist verständlich. Wie viel man mit Hilfe des Kinos über damals und heute in der Ukraine begreifen kann, ist schwer zu entscheiden – aber man macht wenigstens ein paar Schritte darauf zu. Ungeachtet des dramaturgischen Kitsches, der am Wegrand des Geschehens nicht vermieden wurde.
 
Trailer   
 
Renate Wagner