Die Gegenwart weckt das Erinnern

Syrische Impressionen

von Hermann Schulz

Hermann Schulz - Foto © Frank Becker
Hermann Schulz
 
Die Gegenwart weckt das Erinnern
 
Vielleicht ist es tatsächlich das Wichtigste, daß die jetzt bei uns lebenden syrischen Flüchtlinge von ihrem Leben in ihrer Heimat und hier bei uns erzählen; der erste Schritt, die Traumata zu überwinden, vielleicht heimisch zu werden.
Während ich mit meiner kleinen Gruppe von jeweils acht bis zehn Männern und Frauen tief in die Lebensgeschichten eintauchte, standen bei mir immer Bilder einer frühen Reise durch Syrien im Hintergrund: Stein- und Sandwüsten, fruchtbare Täler, die Zitadelle von Aleppo, Straßenszenen in Damaskus, Bilder von den Busfahrten durch die Wüste zwischen den beiden Städten, Straßenszenen in den Dörfern, wo der Bus eine Pause einlegte.
Es war das Jahr 1960, ich war gerade zwanzig geworden. Ich ahnte nicht, daß die Begegnung mit dem Fremden die Türen öffnen würde »zu mir selbst«, ein Stück Erwachsenwerden: Überwindung der Bindungen an Elternhaus, Schule, Kirche. Solche Dinge nimmt man, wenn überhaupt, später in Erinnerungen wahr, bis man endlich lernt, sie richtig für sich selbst einzuordnen.
 
Von der türkischen Stadt Antakya (das biblische Antijochia) war ich per Anhalter zur nahen syrischen Grenze gereist. Zu meinem Verdruß verlangte man von mir nicht nur ein Visum (das ich hatte), sondern eine Bescheinigung, daß ich kein Jude sei. Wo ich ein solches Papier bekommen könne?
In Mersin, einer türkischen Hafenstadt, einige hundert Kilometer entfernt, bei einem orthodoxen Priester. Die Fahrt kostete mich einige Tage. Das Vorzeigen meines Gesichtes vor der Haushälterin des Priesters reichte aus, daß ich am nächsten Morgen gegen fünf Dollar das Dokument bekam.
Zurück an der Grenzstation nach Syrien fragten mich die türkischen Beamten, warum ich denn in diese unkultivierten arabischen Länder reisen würde.
„Ich möchte die Menschen, ihre Kultur kennen lernen!“, antwortete ich.
„Das sind alles Gauner, glaub uns! Bleib lieber in der zivilisierten Türkei! Hier achten wir die Fremden, vor allem die Deutschen!“
Den Weg von der syrischen Grenzstation nach Aleppo machte ich zu Fuß durch eine sternklare Nacht. Ich fühlte mich leicht auf diesem weiten Weg, beschwingt trotz aller Anstrengungen. Bis in der Morgensonne die Silhouette der Stadt am Horizont auftauchte.
In Erinnerung habe ich die herrschaftliche Zitadelle in der Innenstadt, die vermutlich heute durch den Krieg zerstört ist. Ich fragte meine neuen syrischen Freunde danach. Sie zuckten mit den Schultern, niemand konnte es genau sagen. Für mich war es wichtig, ihre Fluchtgeschichten anzuhören und aufzuschreiben. Würde das jemand lesen oder hören wollen? Wenn ich in diesen Wochen die Tageszeitungen und Magazine las, überboten sich die Journalisten mit Geschichten, die sich gegenseitig den Rang abliefen, was Schrecken, Tod und Leiden anging. In Worten und unerträglichen Bildern.
Und immer wieder die Erinnerungen der frühen Reise. Ich wußte wenig von diesem Land, einen Reiseführer gab es nicht; wer fuhr schon nach Syrien? Im Bus von Aleppo nach Damaskus. Neben mir saß ein Student, mit dem ich mich in Englisch unterhalten konnte und der mich ein paar Worte Arabisch lehrte: Danke, bitte, guten Tag, sehr gut - und so weiter. Er hatte Freude daran, aber würden mir die wenigen Sprachbrocken weiterhelfen?
Der Bus wurde von einem Polizeiposten angehalten, zwei martialische Beamte verlangten die Pässe zu sehen. Da erlebte ich zum ersten Mal, was es in diesem Land hieß, ein armer syrischer Bauer zu sein.
Der alte magere Mann hatte keine Papiere, die er vorweisen konnte. Da gab ihm der Beamte - rechts und links - ein paar heftige Ohrfeigen. Ich wollte aufspringen, weil mich der Vorgang empörte. Mein Banknachbar hielt mich zurück. „Bleibt sitzen, sag nichts! Sonst geht es dir dreckig!“ Im Bus gab es keine Proteste; wo uns vorher lebendiges Geplauder umgeben hatte, jetzt bedrücktes Schweigen. Das war mein erster Kontakt mit dem Regime dieses Landes. Davon erzählte ich meinen syrischen Freunden nichts, um sie nicht zu beschämen. In Damaskus nahm ich ein billiges Zimmer in einem Hotel; es stellte sich heraus, daß es sich um ein Bordell handelte. Aber ich blieb unbehelligt und machte mich in den nächsten Tagen auf den Weg, um die Stadt kennenzulernen.
Noch bevor ich denkwürdige Begegnungen mit syrischen Studenten auf dem Campus oder in Cafés hatte, erlebte ich durch Zufall im Stadtzentrum die Durchfahrt von zwei Politikern im offenen Wagen. Beide Gesichter kannte ich aus der deutschen Presse. Gamal Abdel Nasser, der Präsident der angestrebten Syrisch-Ägyptischen Union (die keine Zukunft hatte) und Pandit Jawaharlal Nehru, der Präsident Indiens, auf Staatsbesuch im Land, das sich zu den »blockfreien« rechnete.
Auf dem Campus der Universität kam ich schnell ins Gespräch mit Studenten. Die Studentinnen hielten sich abseits, guckten aber neugierig zur Gruppe, die mich bald umringte. Mit jungen Mädchen bin ich, außer in meinem Hotel, während meiner syrischen Wochen nicht ins Gespräch gekommen! Als ich erwähnte, ich hätte die beiden Präsidenten am Tag zuvor gesehen, ergossen sich unangenehme Kommentare über mich: „Bald werden sie die Juden ins Meer schmeißen!“ „Bald werden alle arabischen Länder eine einzige Nation bilden!“
„Hitler hat es ihnen vorgemacht! Warum hat er nicht alle vernichtet?“
Um sie von ihren idiotischen Themen abzulenken, sagte ich, bald würde ich als Verleger arbeiten. Ob sie mir etwas über die syrische Gegenwartsliteratur erzählen könnten. Sie nannten einige Namen, die ich mir notierte, über die Inhalte schwiegen sie.
„Stimmt es, daß man in Deutschland jede Frau auf der Straße küssen darf?“
„Hast du in Deutschland ein fucking-girl?“
Ich hatte es bald satt, mir diesen Unsinn anzuhören und auch noch antworten zu müssen. Als ich den Campus verließ, begleiteten mich zwei junge Studenten, die sich in dem peinlichen Gespräch zurückgehalten hatten, und luden mich in ein Café ein. Sie hatten meinen Unmut wohl mitbekommen. „Sie meinen es nicht so“, sagte einer und guckte beschämt. „Was meinen sie nicht so? Das mit den Juden?“ „Das auch. Aber hier wird überall darüber so geredet. Sie meinen es nicht so.“ Sie glaubten nicht an die arabische Einheit. Als sie das leise murmelten, guckten sie sich vorsichtig um, ob jemand mithören könnte. „Überall der Geheimdienst“, flüsterten sie. „Sei vorsichtig mit deinen Äußerungen, damit du keine Schwierigkeiten bekommst. Wir haben hier noch keine Demokratie“ Daß es viel schlimmer kommen würde für dieses geschundene Land, ahnte ich damals nicht. Aber die Bilder belebten sich in meinem Innern, als ich die wunderbaren Gesichter der Männer und Frauen in unseren Wuppertaler Begegnungen vor mir sah, und erinnerte mich an meine Besuche in den Dörfern, die Damaskus umgeben:
Würdige Männergesichter auf den Baumwoll- und Gemüsefeldern, unter den Olivenbäumen bei der Ernte. Blumen, soweit das Auge reichte, die sanften Hügel vor der Stadt. Familien auf den Höfen, umgeben von Kindern und Kindeskindern, Gelächter und Fröhlichkeit, Einladungen, an ihrem Essen teilzunehmen. Das ließ mich jenen syrischen Halunken vergessen, der mich in ein teures Restaurant einlud, sich gepflegt mit mir unterhielt, und dann ohne zu bezahlen durch eine Hintertür verschwand. Damit waren meine Geldmittel um 50% reduziert. Und ich vergaß nicht so schnell meinen Besuch in einer Bank, um meinen letzten 50-Dollar-Schein zu wechseln. Der Beamte gab mir für zehn Dollar syrisches Geld, ich hätte ihm ja nur zehn Dollar gegeben. Ich holte in meiner Not einen Polizisten von der Straße, der sich mit dem Beamten unterhielt, für mich nicht zu verstehen.
„Der Mann hat keinen 50-Dollar-Schein in der Kasse! Also verschwinden Sie!“
An eine Weiterfahrt zu den wunderbaren Baudenkmälern im Landesinnern war nicht zu denken; ich machte mich auf den Weg zurück in die Türkei, wo ich Freunde treffen würde.
 
Meine guten und schlechten Erfahrungen haben in meinen Gesprächen mit den neuen syrischen und kurdischen Freunden nichts zu suchen! Über unseren Begegnungen liegt ein Schleier von Traurigkeit und Hoffnungslosigkeit. Vorsichtig taste ich mich heran im Gespräch. Hoffen sie, in ihr Land zurückzukehren? Was müßte geschehen, daß Friede sein würde? Welche Rolle spielten der Islamische Staat in dem Konflikt, die Amerikaner, die Russen, Saudi Arabien, die religiösen Gruppen im Islam?
Wie werden sie bei uns in Deutschland aufgenommen? Haben sie Kontakte zu den Deutschen? Das wäre wohl zu viel verlangt und würde Kenntnisse der Sprache voraussetzen. Meine neuen Freunde erzählen dankbar von der Betreuung durch die Diakonie, den Schwierigkeiten mit der Sprache.
Und die Politik in ihrem Land? Ich spüre mehr als daß ich es höre: Sie sind den Verwicklungen gegenüber so hilflos wie ich selbst. Und erfahren ebenso hilflos wie ich, daß sich das Klima den Flüchtlingen gegenüber in unserem Land seit den Kölner Ereignissen und den brennenden Unterkünften, den Demonstrationen der Rechten vor den Autobussen mit ängstlich starrenden Syrern, Kindern, Frauen und Erwachsenen verändert hat.
Moussa, einer unserer Übersetzer, schlägt vor, wir sollten unsere Begegnungen ein bißchen anders gestalten, vielleicht mit mehr Humor, mit Musik und Tanz. Kann man das organisieren?, frage ich mich. Ich würde es mir wünschen.
Vorrangig ist, miteinander ins Gespräch zu kommen, die Einsamkeit der Fremde durch Gespräche und freundliche Gesten zu durchbrechen, ein Gefühl von Vertrauen aufzubauen. Das wird Zeit brauchen, und viele Begegnungen. Wir sind ganz am Anfang, stelle ich fest. Noch lassen wir uns auf Flüchtlinge ein, nicht auf Menschen! Eine Aufgabe, für die wir Vertrauen schaffen müssen.
Ich stelle resigniert fest, daß die jungen Männer in meiner Gruppe allen Gefühlsbereichen ausweichen und auf meine Fragen so antworten, wie sie erwarten, daß ich es hören will. Wie kann ich diese Mauer durchbrechen?
Von meinen Kolleginnen erfahre ich, daß die Frauen in ihren Gruppen - denn Frauen gehen meist zu Frauen! - eher bereit sind, aus ihrem Alltag in Syrien zu sprechen. Sie erzählen vom Leben in ihren Familien, weichen auch Fragen nach dem Verhältnis zwischen Männern und Frauen nicht aus, sind peinlich berührt von den Übergriffen in Köln, berichten von Festen in ihrem Land, von den wunderbaren Texten ihrer Dichterinnen und Dichter. Und daß sie nicht mehr in einer Gesellschaft leben wollen, die sie zu Menschen zweiter Klasse degradiert.
Die jüngeren Frauen wollen hier in Deutschland bleiben. „Nie mehr zurück!“
Aber die Familienbindungen sind bis heute stark, jeder hat Verwandte in Syrien, zu denen sie über Handy den Kontakt halten. Es ist die wichtigste Errungenschaft der Kommunikation in einer Situation, wo ein Gespräch zwischen weit entfernten Ländern noch einen Funken Hoffnung enthält. Das vielleicht nicht alles verloren ist.
 
 
Dieser Text von Hermann Schulz wurde der aktuell im NordPark Verlag erschienenen Publikation „In unserer Mitte – Gespräche mit syrischen Geflüchteten“ entnommen. Das 72 Seiten starke Bändchen aus der Reihe `Die Besonderen Hefte` enthält des weiteren Beiträge von Christiane Gibiec, Dieter Jandt, Torsten Krug, Dorothea Müller, Sibyl Quinke und Helge Lindh. Es ist unter der ISBN 978-3-943940-37-4 im Buchhandel oder beim Verlag zu bekommen: www.norpark-verlag.de