Ein köstlicher Kolportage-Roman

Walt Whitman – „Jack Engles Leben und Abenteuer“

von Frank Becker

Köstlich!
(„All `s well that ends well“)
 
Wer Walt Whitman als Verfasser seines gewaltigen lyrisch-epischen Werks „Grashalme“ („Grasblätter“) kennt, nimmt diesen erfrischenden kleinen Kolportage-Roman, der nicht im geringsten kopflastig ist, mit großem Vergnügen in die Hand. Im Frühjahr 1852 als Fortsetzungsroman in der New Yorker Zeitung „Sunday Dispatch“ anonym erschienen, wirkt er heute wie eine pfiffige Fingerübung des Dichters – und diente ihm sicher auch als leichte Brotarbeit. Zugleich ist er ein mit einfachen Mitteln dramatisch leicht überhöhter Spiegel der religiös geprägten bürgerlichen amerikanischen Einwanderer-Gesellschaft um 1850, nach der Befreiung von der englischen Krone und vor dem Sezessionskrieg.
Daß „Jack Engles Leben und Abenteuer“ von dem Whitman-Forscher Zachary Turpin 150 Jahre nach der Erstveröffentlichung - der Zeitungsroman war nie als Buch erschienen - entdeckt und Whitman zweifelsfrei zugeordnet werden konnte, ist nicht nur eine literaturgeschichtliche Sensation, es ist eine erfrischende Begegnung mit der Prosa Whitmans, der, wie Wieland Freund in seinem Nachwort unterstreicht, sehr heikel mit diesem Genre  umgegangen ist, einiges sogar vermutlich vernichtet hat. Durch das Wiederfinden von „Jack Engles“ lernen wir Whitman und das amerikanische Selbstverständnis noch besser kennen – und werden zugleich bestens unterhalten.
 
Man geht nicht fehl, Whitman zum Zeitpunkt der Entstehung des Romans als einen Anhänger, wenn nicht gar Epigonen Charles Dickens´ einzuordenen, des großen englischen Vorbildes, das Whitman in New York persönlich gehört hat. Zu ähnlich ist die Geschichte um den Waisen Jack Engles, sein Schicksal und seinen Aufstieg dem Stil und Inhalt von Oliver Twist, der 1837 bis 1839 ebenfalls in Fortsetzungen in der englischen Zeitschrift „Bentley’s Miscellany“ erschienen war.
Von mildtätigen Leuten, dem Milchmann Ephraim Foster und dessen Frau Violet aufgenommen und an Sohnes Statt ordentlich erzogen, begegnet Ich-Erzähler Jack im Lauf seiner Entwicklung wie ein Wanderer durch die Stadt einem bunten Querschnitt durch die religiös geprägte Mittelstandsgesellschaft (Quäker, Methodisten, Presbyterianer, Katholiken) der ersten pulsierenden amerikanischen Metropole New York. Das sind untadelige Gentlemen und brave Polizisten, ein betrügerischer Anwalt und tückische Gauner, Dandys, Stenze, originelle Sonderlinge und aufrechte Freunde sowie schöne Damen von Liebreiz und hoher Moral. Oft sind es gebrochene Biographien, die seinerzeit beim Leser Spannung erzeugen sollten, zum anderen aber auch wieder ein Spiegel dieser Zeit des Umbruchs und der noch nicht gefestigten Gesellschaft Amerikas waren. Daß Whitman immer wieder amerikanische Werte wie das Handwerk, den Handel und eine funktionierende Justiz beschwört und die hohe Moral seiner Kernfiguren betont, zeigt seinen Wunsch nach einem Gelingen des ja noch im Entstehen begriffenen Projektes „USA“. Das auskömmliche Miteinander von Nationen und Charakteren in diesem Schmelzofen war dafür die Grundbedingung. Wo Hinderungsgründe aufscheinen, läßt Whitman die „Störer“ einfach wieder auswandern.
 
Nachgerade kuriose dramatische Wendungen und Fügungen passen hervorragend in das hier mustergültig vorgeführte Genre des erbaulichen und höchst spannenden Kolportage-Romans, der ja von Folge zu Folge den Leser, die Leserin neu zu fesseln hatte und auch augenzwinkernd die Liebeswirren eines jungen Mannes von erster zarter Annäherung bis zum glücklichen Ende nicht ausspart. Das liest sich heute noch so herrlich weg wie wohl damals schon, und der Leser hangelt sich neugierig bis zu befriedigenden Schluß von Kapitel zu Kapitel. Köstlich.
Amüsant auch, wie deutlich zu bemerken ist, daß Whitman seine Fortsetzungen mal hastig hingeworfen, mal aus Mangel an frischen Ideen breit ausgewalzt hat und eher plump als elegant immer mal wieder neue Figuren einbringt, die an anderer Stelle bereits gut gepaßt hätten (u.a. Calvin Peterson und sein Sohn Tom, Jacks Schulfreund, der Polizeihauptmann) und andere wieder verschwinden läßt, weil sie nicht mehr ergiebig erscheinen (z.B. Barney Fox).
 
Die hervorragende, der Spache der Zeit hinreißend angepaßte archaisierende Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli sei hier ausdrücklich als entscheidend für den Erfolg dieser deutschen Erstausgabe erwähnt und unterstrichen. Wieland Freunds Nachwort ermöglicht ein besseres Verständnis der historischen wie literarischen Hintergründe, ausgewählte Anmerkungen sind ein weiterer Schlüssel dazu.
 
Walt Whitman – „Jack Engles Leben und Abenteuer“
Roman – Aus dem amerikanischen Englisch von Renate Orth-Guttmann und Irma Wehrli
© 2017 Manesse Verlag, 186 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Nachwort von Wieland Freund, historische Anmerkungen - ISBN: 978-3-7175-2450-2
22,- € [D] / 22,70 € [A] | 29,90 sFr
 
Weitere Informationen:  www.randomhouse.de