Mutters gute Tassen mit Goldrand

Von Hertha Lehmann-Jottkowitz

Mutters gute Tassen mit Goldrand
 
Von Hertha Lehmann-Jottkowitz
 
Meine Mutter hat eine besondere Vorliebe für schönes Porzellan, und ein liebevoll gedeckter, festlich anmutender Kaffeetisch konnte sie in Entzücken versetzen. Ihre schlichten weißen Tassen mit zierlichem Fuß und Goldrand blieben auch dann noch ihre Lieblingsgedecke, als sie von ihrer Schwester weit kostbarere, mit leuchtend bunten Pfauenaugen umrandete geerbt hatte.
     Ein glücklicher Zufall wollte es, daß mir nach Kriegsende Mutters Tassen - sowohl die mit dem Goldrand als auch die mit den Pfauenaugen - erhalten blieben, und da sie nahezu das einzige waren, was ich zum „Tauschen” besaß, entschloß ich mich, sie in Lebensmittel „umzusetzen”.
Eine Krankenschwester, mit der ich über meine Absicht sprach, war bereit, sich jede Woche ein Brot von ihrer Ration für meine sechsköpfige Familie abzusparen, und ich sollte ihr dafür jeweils eines von Mutters Gedecken geben. Im Stillen hoffte ich, Schwester Gisela würde sich für die „Pfauenaugen” entscheiden, aber - leider - fiel auch ihre Wahl auf Mutters Lieblingstassen mit dem Goldrand. Sechs Wochen lang fuhr ich jeden Montag ins Krankenhaus und vollzog unseren Tausch.
     Jedesmal, wenn ich in den folgenden Jahren bei Schwester Gisela eingeladen war, hatte dieser Besuch für mich seinen eigenen Zauber. Mutters Tassen, mit denen der Kaffeetisch dann stets gedeckt war, gaben mir ein Gefühl des Nach-Hause-Kommens. Obgleich ich in dem Haus wohne, in dem meine Mutter gelebt hat, hat dieses Service für mich mehr von ihrem Wesen bewahrt als die Räume, in denen sie einst wirkte.
     Unlängst war ich wieder bei Schwester Gisela eingeladen. Diesmal standen neue Gedecke auf dem Tisch, auch mit Goldrand, aber leicht gelblich getönt und ohne Fuß. Ich bekam eine gelinden Schrecken: „Heute, sagte sie, „nehmen Sie die Tassen Ihrer Mutter mit nach Hause. Seit meine Mutter unlängst gestorben ist, wird mir plötzlich klar, wie sehr man an jedem Gegenstand hängt, der durch Mutters Hand gegangen ist. Sagen Sie, wird das mit der Zeit anders, ich meine, daß einem die Mutter so fehlt?”
     „Nein”, antworte ich, „das Gefühl verstärkt sich, je älter man wird, desto mehr kommt man im Denken und Fühlen der Mutter näher, und desto mehr entbehrt man sie.“ Und als ich dann mit vier sorgfältig eingepackten Gedecken heimfuhr - zwei Tassen waren inzwischen, wie so vieles in den letzten Jahrzehnten, in Scherben gegangen - , kam mir diese späte, fast festliche Erkenntnis: Je mehr wir uns selbst dem Alter nähern, in dem unsere Mütter von uns gingen, desto mehr entschwindet die Distanz, die zuweilen Eltern von ihren Kindern trennt, desto mehr rücken wir alle - die Lebenden und die Toten - geistig zusammen.
 
 
Diesen Text fanden wir auf einem alten, schon leicht vergilbten und nicht datierten Zeitungsausschnitt, der etwa aus den 1960er Jahren stammen könnte. Die Verfasserin konnte nicht mehr ermittelt werden, auch die Zeitung ist unbekannt. Weil er so berührend ist, veröffentlichen wir den Text dennoch, in der Hoffnung, daß sich Verfasserin oder Berechtigte mit uns in Verbindung setzen.