Wenn man ein Buch verleiht

von Rudolf Presber

Wenn man ein Buch verleiht
 
Von Rudolf Presber
 
„Wer nicht die Welt in seinen Freunden sieht,
verdient nicht, daß die Welt von ihm erfahre.“
 
Also, ich habe eine Bibliothek, eine schöne Bibliothek, eine gute Bibliothek. Eine Bibliothek, die ich mir mit Lust und Liebe unter erklecklichen Kosten zusammengetragen.
Meine lieben Freunde wissen das. Und da einige recht gern lesen, aber ihr Geld lieber in Zigarren, Weinen oder Damenstrümpfen (nicht für sie selbst) anlegen, so sagen sie zu mir: „Du liest doch nicht den ganzen Tag selber in deinen Büchern, und nicht in allen zugleich.“
„Nein“, sage ich, „das tue ich nicht.“
„Und du zitierst gern den Satz: „Wer nicht die Welt…“
„Ja, den zitiere ich gern.“
„Also, leih´ mir doch mal die `Buddenbrocks´ von Thomas Mann.“
       Ich bin von der Wahl des Freundes nicht sehr begeistert. Nicht, weil ich den Roman etwa selbst mißachte, im Gegenteil. Aber ich habe mir das Buch – in guten Zeiten – selbst sehr schön binden lassen. In Kalbleder. Kalbleder ist diffizil. Man sieht leicht Finger darauf und Frühstücksflecke und Ähnliches.
Ich versuche abzuwenden: „Ich glaube, gerade dieses Buch ist verliehen.“
„Aber da steht es doch!“ sagt der Freund, der gute Augen hat.
„Richtig, da steht es!“
„Hübsch eingebunden, nobler Freund.“
„Ja – nicht wahr, du schonst mir das Buch?!“
„Aber das versteht sich doch“, sagt der Freund und läßt es fallen. „Hoppla!“ fügt er hinzu und bläst – etwas feucht – über das Kalbleder. Ein Vorderzahn fehlt ihm schon seit Obertertia.
„Du interessierst dich gerade für Mann – sonst hätte ich dir vielleicht einen schönen Fontane –„
„Ich – für Mann“ Nein, aber Clärchen.“
„Ach Clärchen -?“ Ich wundere mich. Clärchen ist nämlich ein liebes und auch ein hübsches und noch ein junges Mädchen. Ihre Tage füllt sie in einem Konfitürengeschäft aus als Verkäuferin. Abends ißt sie mit meinem Freund in den „Winzerstuben“, oder sie geht mit ihm ins Ballhaus tanzen.
„Mir ist es neu, daß Clärchen sich für Literatur interessiert, und außerden –„
„Tja“, sagt der Freund, „so für gewöhnlich ist ihr der Zirkus lieber oder das Kabarett. Aber jetzt, verstehst du, hat sie die Grippe.“
Ich bedaure zwar, daß Clärchen die Grippe hat; aber ich empfinde es peinlich, daß gerade ein Buch von mir ihr dabei Gesellschaft leisten soll. Erstens- die Bazillen – zweitens die Arzneien, die gar so leicht Flecke geben, drittens – die Leserei im Bett endet gewöhnlich mit Eselsohren und verbogenen Buchdeckeln. Viertens – finde ich überhaupt, daß Thomas Mann nichts für Clärchen ist… und fünftens – Kalbleder!
„Da sollte Clärchen doch lieber etwas Heiteres lesen, wenn sie die Grippe hat. Das Buschalbum oder so etwas.“
„Oh, da irrst du dich sehr. Clärchen ist eine tiefe Natur. Man merkt es ihr nicht so an Sie lacht ein bißchen viel und manchmal ein bißchen blöd. Aber wenn du auch so schöne Zähne hättest, lachtest du auch viel und blöd. – Denk dir, neulich hab´ ich ihr `nen Nietzsche mitbringen müssern.“
„Donnerwetter, und den hat sie gelesen?“
„Mein Gott, - gelesen ist vielleicht zu heftig ausgedrückt. Aber sie hat ihn interessiert durchgeblättert. Sie hat da, verstehst du, nach der Stelle gesucht, wo so was von der `Frau mit der Peitsche´ steht – das hat sie interessiert. Ihr Chef, mußt du wissen, prügelt nämlich jeden Abend seine Frau.“
„Hm. Sucht sie auch so etwas in den `Buddenbrocks´? Dann kann ich ihr voraussagen, da steht nichts davon drin.“
„Nein, nein – die `Buddenbrocks´, die will sie richtiggehend lesen. Sie hat nämlich mal, verstehst du, einen Herrn von Buddenbrock kennen gelernt. In den `Amorsälen´, glaub ich oder bei Kempinski. Der war Leutnant. Ganz flüchtig hat sie ihn gekannt. Aber er muß sie beeindruckt haben. Sie meinte, nun müsse die ganze Familie sehr interessant sein… Das heißt, im Grunde bin ich ihr Ideal. Das weißt du ja.“
„Ja, jja. Aber du kommst in den `Buddenbrocks´ auch nicht vor!“
       Ich hoffte immer noch abzulenken. Aber es ist alles vergeblich. Der Freund verschwindet. Die `Buddenbrocks´ unter den Arm geklemmt.
Ich sehe ihm nach. Die Straße ist naß und es regnet. Er konstatiert´s, indem er vor dem Hause stehen bleibt und die `Buddenbrocks´ flach vor sich hin hält. „Richtig, Regentropfen!“
Ich reiße das Fenster auf. „Wickle doch das Buch ein!“ rufe ich wütend hinunter.
„Gern“, ruft er hinauf und winkt freundlich. „Wirf mir Papier herunter!“
Ich reiße eine Kölnische Zeitung vom Büchertisch, die ich noch nicht gelesen habe, und werfe sie hinunter. Sie fällt in den Rinnstein; er hebt sie trotzdem auf, schlenkert die Feuchtigkeit ab und wickelt das Buch ein.
Ich bin wütend; aber er ist schon zu weit, um ihm meinen Zorn nachzuschreien.
       Acht Tage höre ich nichts. Nichts von dem Freund, nichts von dem Clärchen, nichts von dem Buch.
Dann begegne ich ihm in der Garderobe eines Filmtheaters. Eine Menge Menschen. Hässliche, schwitzende, die aus „Kraft und Schönheit“ strömen, drängen, sich beschimpfen und um die Garderobe prügeln.
Der Freund stößt mir im Vorübergehen seinen Schirm in die Kniekehlen. Ich will grob werden, drehe mich um und erkenne ihn: „Ach, du bist´s! Wie geht’s -?“ beginne ich.
„Clärchen? Danke. Sie hat schließlich als einzige Medizin Sekt verschrieben bekommen. Das half dann. Sie geht schon wieder –„
„Ins Geschäft.“
„Nein. Tanzen.“
„Und meine `Buddenbrocks´?“
„Also du, das ist komisch – Sie, das ist mein Hut! – Der Leutnant hieß eigentlich von Bredenbrück. Und nun interessiert sie natürlich das ganze Buch nicht mehr…“
Eine dicke, geschminkte Dame, wie ein mit Sand gefüllter Sack, schieb sich zwischen uns. Ich höre nur noch hinter ihrem geräumigen Busen des Freundes gequetschte Stimme:
„Sie hat´s – dein geneigtes Einverständnis voraussetzend – ihrer Freundin, dem Lieschen Krokus geliehen.“
Die dicke Dame wünschte aufgeregt zu wissen, warum ich nicht weiterginge und stand dabei auf meinem Fuß. Der Freund ist verschwunden.
Ich denke, während ich die Beulen aus meinem Hut entferne,: Wer mag Lieschen Krokus sein? Und wie komme ich dazu, mein Buch in Kalbleder binden zu lassen, wenn es schließlich Lieschen Krokus… Ob die auch den Leutnant von Bredenbrück gekannt hat? – Leutnants sind da, um unter Lieschens und Clärchens Verheerungen anzurichten. Früher freilich, als die Uniformen noch lustiger waren und die Husaren sogar auf dem Gesäß silberne Schnüre hatten - -
       Wiederum höre ich nichts. Lange Zeit nichts von dem Freund, von Clärchen, von Lieschen Krokus, von den kalbledergebundenen „Buddenbrocks“.
Da, eines nachts – die erste, die ich wieder bei offenem Fenster schlafe, steigt – natürlich im Traum – der „Mann im Mond“ aus der silbernen Himmelskugel und ausgerechnet in mein Zimmer ein. Macht sich über die Bibliothek her und greift sich Buch um Buch. „Wo sind die Buddenbrocks in Kalbleder!?“ fragt er plötzlich mit Donnerstimme.
Davon erwache ich und mach´ mir eine Notiz auf meinen Nachtblock, die ich am anderen Morgen lange nicht lesen kann, bis ich mir, im Nachthemd auf dem Bettrand sitzend, einen Schnupfen geholt habe.
Dann fällt´s mir wie Schuppen von den Augen. Das Geschreibsel soll heißen: „Lieschen Mann nach Thomas Krokus fragen.“ – Ich mußte sehr verschlafen gewesen sein in der Nacht.
Ich telephoniere gleich nach dem Frühstück an meinen Freund. Er hat mit Clärchen gebrochen, sagt er. Sie ist jetzt mit dem Sektfritzen liiert, der ihr damals die Medizin für die Grippe verschaffte. Am liebsten höre er gar nichts mehr von ihr.
Ich bedeute ihm, daß ich mein Buch nicht verlieren will. Er soll gefälligst dafür sorgen, daß… Er nennt mich einen Pedanten. Ich sage: es war ein neues Buch. Wenn e noch eine Widmung von der Hand des Autors enthalten hätte, sagt er.
Ich sage: es war in Kalbleder gebunden.
Er sagt: das ist überhaupt ein Snobismus – in Kalbleder!
Ich sage: er hat es damals sehr apart gefunden.
Er sagt: er denkt jetzt überhaupt ganz anders.
Ich sage: das interessiert mich nicht, und er soll mir mein Buch wieder verschaffen.
Er sagt: die Sache ist langweilig, und er wird ihr schreiben.
Ich sage: - aber das hört er nicht mehr. Er hängt ab.
       Drei Tage später bekomme ich einen Brief, der wie ein ganzes Parfümgeschäft riecht. „Mein Herr“, lautet er. „Nicht ich, sondern Ihr feiner Freund hat Lieschen Krokus das Buch geliehen. Dann hat er mich mit ihr betrogen. Wo ich doch krank war. Ich habe es gar nicht mal zu Ende gelesen. Ich mache mir nichts aus Büchern, die in der Ritterzeit spielen. Das ist immer gelogen. Womit ich verbleibe Ihre Clara Hintze.“
P.S. Der Ölflecken auf dem Bild vom Sultan im zweiten Kapitel war übrigens schon, als ich das Bild bekam.“
Ölflecke – schrecklich – auf Kalbleder! Aber was denn – „Die Boddenbrocks“ – in der Ritterzeit – illustriert – Bild des Sultans -?!
Ich telephoniere sofort an den Freund. Er hat auch mit Lieschen Krokus gebrochen, sagt er. Sie tanze jetzt mit einem Levantiner, den er übrigens nicht für echt hält, in der „Schlemmerwiege“. Eine richtige Wohnung scheint sie gar nicht mehr zu haben. Übrigens will er nichts mehr mit ihr zu tun haben. Und dieser dämliche Roman von Felix Holländer langweile ihn nun schon. Ich sage: er ist nicht von Felix Holländer. Er sagt: das ist egal – er langweilt ihn. Ich sage: ich will das Buch aber wiederhaben. Er sagt: ich soll´s mir einsalzen. Ich sage: da hat er gut raten, nachdem ich mir´s in Kalbleder… Er hängt ab.
Ich schreibe also an Lieschen Krokus einen Brief. Höflich und eingeschrieben.
Als Antwort kommt nach acht Tagen ein falschfrankiertes Paket. Ich zahle die Strafe, öffne. Ein zerlesenes Buch fällt heraus. Schmierig und ungebunden. Auf dem Umschlag hat etwas mit Tinte gestanden und ist ausgestrichen. „Casanovas Flucht aus den Bleidächern von Venedig.“ Nanu!?
Lieschen Krokus schreibt, mehr herzlich als orthographisch, dazu diesen Brief auf die Rückseite einer unbezahlten Rechnung eines Modehauses über 380,00 Mark:
„Mein Herr“ Sie woln ein Zafalier sein und bressieren eine Dame von wejen so ein dämliches Buch? Da muß ich Ihnen doch sagen wenn denn schon Kasanofa dann konts auch bikkant sein aber der Mann macht nichts als daß er Mauern hoch und Wände lang klettert auf dreihundert Seiten und der Fettflecken von Seite 157 bis 229 war schon und unanständig ist es überhaupt nicht – bloß daß die Seiten 211 bis 243 herausgerissen sind. Und was das Kalbsleder anbetrifft das Leder zu dem Kalb oder Kalb zu dem Leder das ham se wohl jeträumt! Übrijens heiß ich nich Lieschen Krokus, sondern Ihre Sie achtende Elizabetta Krokuska.“
 
 
Aus: Rudolf Presber – „Der Kampf mit dem Alltag – ein Trostbuch für Leidensgenossen“, 1926 Eulenspiegel Verlag.

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Bücher haben ein Ehrgefühl. Wenn man sie verleiht, kommen sie nicht mehr zurück.