Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
wir ziehen durch sie hin. Der Zeit auf den Zeiger geschaut
„Zeit macht nur vor dem Teufel halt,
denn er wird niemals alt, die Hölle wird nicht kalt. (...) heute ist schon beinah' morgen.“ (Paul & Barry Ryan, deutsch von Miriam Frances)
Die Zeit ist ein Phänomen mit dessen Erklärung, Einteilung und Messung sich intensiv und mit höchst unterschiedlichem Ansatz Wissenschaft und Philosophie, Dichtung und Politik, Sport im Zeitalter der Tausendstel Sekunden und leider auch die Theologie befassen. Der durch seine kulturwissenschaftlichen Untersuchungen und Betrachtungen hervorgetretene Autor Simon Garfield („Briefe!“ – „Karten!“) geht in seinem neuen Buch „Zeitfieber“ diesem Phänomen, der Geschichte der Zeit auf seine eigene Weise nach.
Wir erfahren, warum die Stunde nicht überall gleich schlägt (denken wir nur an die durch den Brexit erneut zementierte Inselzeit gegenüber der Kontinentalzeit), wie es die Franzosen mehrfach (erfolglos) unternommen haben, die Zeitmessung u.a. mit Gemüse zu ändern, weshalb die innere Uhr täuschen kann und wie es kam, daß Beethoven am 17. Mai 1824 aus dem Takt geriet. Wir erfahren viel über die komplizierte Aufstellung von Eisenbahnfahrplänen, erfahren viel über den Stummfilmstar Harold Lloyd und sehen ihn in „Safety last!“ am Minutenzeiger einer großen Uhr an der Fassade eines Warenhauses hängen (ein Klassiker) und erleben die Endlosschleife im Kopf Roger Bannisters mit, der als erster Mensch die Meile unter vier Minuten lief. „So begibt sich Garfield auf die Suche nach den Spuren der Zeitbesessenheit in die Kunst-, Kultur- und Geistesgeschichte: zu jenen Ereignissen, die den Umgang mit der Zeit von Grund auf verändert haben, und den Menschen, die diese geprägt haben. Höchst unterhaltsam und humorvoll erzählt er von der politischen Bedeutung des Kalenders und der Erfindung der Eisenbahn, wie die Idee von Pünktlichkeit entstand und davon, wie die Markteinführung des Plattenspielers das Zeitempfinden der Menschen veränderte. Er nimmt den Leser mit in die Frühzeit des Kinos und der Fotografie sowie in die Welt heutiger Produktivitäts- und Zeitmanagement-Apps und macht es möglich, Schriftsteller, Athleten, Erfinder, Redner und – natürlich – Uhrenmacher bei ihrer Arbeit zu beobachten“, schreibt der Verlag im Klappentext - und unterhaltsam ist Garfields Buch durchweg.
Natürlich können wir von ihm als Engländer kaum erwarten Gottfried Keller (1819-1890) zu kennen, aber hier paßt dessen Gedicht „Die Zeit geht nicht“:
Die Zeit geht nicht
Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
Wir ziehen durch sie hin; Sie ist ein Karavanserai, Wir sind die Pilger drin. Ein Etwas, form- und farbenlos,
Das nur Gestalt gewinnt, Wo ihr drin auf und nieder taucht, Bis wieder ihr zerrinnt. Es blitzt ein Tropfen Morgentau
Im Strahl des Sonnenlichts; Ein Tag kann eine Perle sein Und ein Jahrhundert nichts. Es ist ein weißes Pergament
Die Zeit und Jeder schreibt Mit seinem roten Blut darauf Bis ihn der Strom vertreibt. An dich, du wunderbare Welt,
Du Schönheit ohne End', Auch ich schreib meinen Liebesbrief Auf dieses Pergament. Froh bin ich, daß ich aufgeblüht
In deinem runden Kranz; Zum Dank trüb' ich die Quelle nicht Und lobe deinen Glanz! Ich erwarte auch nicht, daß Simon Garfield Martin Heideggers Zeitbegriff untersucht, daß er sich mit Georg Christoph Lichtenberg, Albert Keller oder Andreas Gryphius auseinandersetzt, Klaus Rinkes weltweit installierter Zeitmessungs-Kunst Raum gibt, wenn ich das auch schade finde und verzeihe ihm, daß er Salvador Dalis fließende Uhren schlabbert, aber erwähnen möchte ich alle die hier beispielhaft zum Hinweis für Leser, die nach Garfield die Lektüre fortsetzen möchten, ebenso wie Clark Blaise und Werner Kinnebrock. Mehr Hinweise finden sich im Literaturregister des Buches. „Slow“ haben sich viele wie in „Slowfood“ in unserer hektischen Zeit der höchstens sekundenlangen Videoclips und Filmschnitte auf ihre Fahnen geschrieben. Die Zeit anhalten oder gar zurückdrehen wollte wohl jeder schon mal im Moment einer besonderen Erfahrung in seinem Leben. Seit sportliche Leistungen in Tausendstel Sekunden gemessen werden – ist ein Läufer, der für 400 Meter eine Tausendstel Sekunde weniger benötigt hat als sein Konkurrent, ein Rennfahrer, der seinen Boliden über eine Strecke von sagen wir mal 5 Kilometern um zwei Tausendstel Sekunden steuert wirklich „schneller“ als der andere? – und von außen auf uns einwirkende Zeittakte unser Leben in bedrängende Zeit-Korsetts pressen, wäre zumindest ein Innehalten jedem von Zeit zu Zeit zu empfehlen. Unterwerfen wir uns nicht dem Zeitfieber.
Die Zeit heilt nicht eine - sie ist die Wunde.
Andreas Steffens Simon Garfield – „Zeitfieber“
Aus dem Englischen von Jörg Fündling © 2017 Konrad Theiss Verlag, 368 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 16 s/w Abbildungen, Register - ISBN: 978-3-8062-3443-5 24,95 € [D] Weitere Informationen: www.wbg-verlage.de
|