Wu tao-tse und die höchste Kunst der Malerei

Eine Anekdote

von Rudolf von Delius
Wu tao-tse
gilt als der Begründer der chinesischen Malerei, die sich durch die unvergleichliche Kunst des Weglassens von der traditionellen europäischen Malerei abhebt. Ohne Pendant in der westlichen Welt ist die Fähigkeit chinesischer Maler, mit wenigen Strichen und Tupfen ihres Tuschepinsels Welten entstehen und Geschichten Gestalt annehmen zu lassen.


Eine Anekdote

Wu tao-tse war alt geworden, ein achtzigjähriger Greis. Da schuf er sein letztes Meisterstück, eine Berglandschaft mit Schnee­gipfeln, Wasserfällen, mit Wäldern und Abgründen. Das Bild sollte feierlich in Anwesenheit des Kaisers enthüllt werden. Der ganze Hof versammelte sich. Wutaotse deckte das Bild auf. Da staunte man das gewaltige Werk an, die höchste endgültige Lei­stung des großen Malers. Eine tiefe Stille herrschte, niemand wagte zu atmen. Plötzlich erhob sich Wu tao-tse. Er ging auf das Bild zu. Er schritt in das Bild hinein. Er stieg langsam einen Felsenpfad empor. Dort oben öffnete sich eine Höhle. Der Maler trat ein in das Innere der Höhle. Die Höhle schloß sich hinter ihm zu. Und in demselben Augenblick verschwand das ganze Bild. Der Kaiser starrte auf die leere Wand.

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