Beckfelds Briefe

An Erich Kästner

von Hermann Beckfeld

Hermann Beckfeld - Foto © Dieter Menne
Er läßt Klassenzimmer fliegen und Emils Detektive Verbrecher jagen; wir alle lieben diese herrlichen Kinder- und Erwachsenen-Romane. Erich Kästner hat aber auch Gedichte und Geschichten gegen das braune Pack geschrieben. Es sind Gedanken, Wahrheiten, heute genauso aktuell wie damals, als die Nazis seine Bücher verbrannten.
 
Sehr geehrter Erich Kästner,
 
nein, es jährt sich heute kein Geburts- oder Todestag. Ich schreibe Ihnen, weil mir eine Leserin Artikel aus alten Zeitungen und Zeitschriften geschickt hat, darunter auch Ihre Weihnachtsgeschichte „Felix holt Senf“. Sie erzählen von dem Jungen, der an Heiligabend nicht nach Hause kommt, weil er die Ohrfeigen des Vaters fürchtet. Der Text, er war so beobachtend geschrieben, so einfühlsam und leicht, aber nicht unkritisch, jedoch nie belehrend. Sie lassen den Leser sich selbst ein Urteil bilden, so wie Sie es uns in all Ihren Romanen erlauben. Als ich die Geschichte von Felix las, schwebten meine Gedanken irgendwie schwerelos in „Das fliegende Klassenzimmer“, zu „Emil und die Detektive“, zu „Pünktchen und Anton“ und „Das doppelte Lottchen“; Kinderbücher, die zwischen 1929 und 1949 auch für Erwachsene geschrieben wurden. Mit Botschaften, die uns noch heute berühren, die damals allerdings einigen Verlagen zu modern waren. Luises Vater, der sich von seiner Frau trennt und damit bewirkt, daß die Zwillinge auseinandergerissen werden. Das Thema Scheidung in Kinderbüchern, noch in der Nachkriegszeit undenkbar.
Sie schrieben Romane, in denen Sie Werte vermitteln, ohne zu moralisieren. In „Das fliegende Klassenzimmer“, da sind es Freundschaft, Zivilcourage, Familie und der Wille, etwas zu erreichen. „Auch aus Steinen, die Dir in den Weg gelegt werden, kannst Du etwas Schönes bauen“, schreiben Sie.
Niemals haben Sie uns und unseren Kindern Märchen erzählt, von einer heilen Welt sowieso nicht. Der bestohlene Emil geht nicht zur Polizei, weil er selber etwas auf dem Kerbholz hat. Der mutige Anton bettelt, weil seine Mutter nach einer schweren Operation nicht für den Unterhalt der Familie sorgen kann.
In jedem Roman, da entdecke ich Ihre eigene Geschichte. Wie Anton hingen Sie sehr an Ihrer Mutter, wie Emil verfolgten Sie eine Verbrecherin, die Ihre Mutter betrogen hatte. Auch Sie lernten als junger Mann die Unterschiede zwischen Arm und Reich kennen, mußten sich durch Nebenjobs das Studium finanzieren und in den ersten Jahren als Autor über Wasser halten. Das Leben, Ihr Leben war hart, nicht immer gerecht; aus meinem Lieblingsgedicht, Sie nannten es „Kurt Schmidt, statt einer Ballade“, schicke ich Ihnen meinen Lieblingsvers gen Himmel: „9 Stunden stand Schmidt schwitzend im Betrieb. 4 Stunden fuhr und aß er, müd und dumm. 10 Stunden lag er, ohne Blick und stumm. Und in dem Stündchen, das ihm übrig blieb, brachte er sich um.“
Ach, Ihre herrlichen, nachdenklich machenden Gedichte; Ihre Filme, Erwachsenenromane und Kurzgeschichten, so häufig humorvoll und satirisch, stets skurril und manchmal beklemmend. Vieles mußten Sie unter Pseudonym schreiben, weil Sie dem NS-Regime zu kritisch, zu intellektuell waren. Anders als viele Kollegen emigrierten, flohen Sie nicht. Sie erklärten stets, daß Sie vor Ort Chronist der Ereignisse sein wollten. Es ist wohl nur die halbe Wahrheit: Nie hätten Sie Ihre geliebte, dominante Mutter allein gelassen.
 
Sehr geehrter Erich Kästner,
Sie wurden von der Gestapo vernommen, zweimal verhaftet und aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, durften offiziell kein Buch mehr schreiben. Sie mußten, Sie wollten mit ansehen, wie Berliner Studenten am 10. Mai 1933 Ihre und die Bücher von 24 weiteren regimekrítischen Autoren in die Flammen warfen. Ihre langjährige Lebensgefährtin Luiselotte Enderle hat in einem Interview kurz vor ihrem Tod erzählt, wie Sie am Scheiterhaufen standen, „es war das Gemeinste, was er erleben mußte“. Jahrzehntelang, verriet Ihre Freundin, hätten Sie sich nicht verzeihen können, bei der Bücherverbrennung geschwiegen zu haben. Ich finde, Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen. Ihre Gedichte und Geschichten sprechen eine deutliche Sprache gegen das braune Pack. Damals wie heute.
 
(26.09.2015)
 
 
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags Henselowsky Boschmann.
„Beckfelds Briefe“ erscheinen jeden Samstag im Wochenendmagazin der Ruhr Nachrichten.

Redaktion: Frank Becker