Welch ein Ensemble, wie phantastisch geführt.

Schauspielhaus Frankfurt: Drei Tage auf dem Land von Patrick Marber

von Renate Wagner

Ensemble - Foto © Birgit Hupfeld

Frankfurt / Schauspielhaus: 

Drei Tage auf dem Land
von Patrick Marber
nach Iwan Turgenjews „Ein Monat auf dem Lande“
 
Deutschsprachige Erstaufführung 4. März 2017
Besucht wurde die Vorstellung am 30. April 2017
 
 
Nur mit seinem Stück „Ein Monat auf dem Lande“ hat sich Iwan Turgenjew – berühmt für seine Prosa, voran den Roman „Väter und Söhne“ – auf den Theaterbühnen gehalten. Ein Tschechow-Vorläufer in Inhalt und Form, wobei die letztere Schwierigkeiten bereitet. Patrick Marber, britischer Erfolgsautor, der auch selbst Stücke schreibt, aber immer gerne Kollegen bearbeitet, hat 2015 aus einem Monat auf dem Lande „Drei Tage auf dem Land“ gemacht und die Erregungen der Figuren von 1855 aus der Distanz von 160 (!) Jahren nicht nur komprimiert, sondern bemerkenswert zeitgemäß gemacht.
Dabei hat er das Stück nicht aus der Zarenzeit ins Heute versetzt – noch immer verfügt der Gutsbesitzer Arkadij über ein paar tausend „Seelen“, sprich Leibeigene -, aber es ist nicht die soziale Situation, um die es geht, sondern die seelische der Protagonisten. Ob es schon bei Marber vorgegeben ist, daß sie im Lauf des Abends oft und immer öfter in Pop-Songs ausbrechen (etwa in Johnny Cashs „I Walk The Line“), oder ob das eine Spezialität der Frankfurter Kriegenburg-Inszenierung ist, bleibt egal, es paßt in die hier beschworene Welt.
Wien kennt Andreas Kriegenburg aus mehreren Burgtheater-Inszenierungen, von denen die letzte alles andere als glücklich gemacht hat: Da wurde die „Pension Schöller“ als mutwilliger Regietheater-Schwachsinn so lange überdreht, daß die Posse Sinn und Zweck verloren hat. Wie anders ist die Situation in Frankfurt, wo sich der Regisseur ausschließlich und geradezu liebevoll dem Stück und seinen Figuren zuwendet. Und wenn er zu verfremdenden Regiekunststücken greift, etwa zu dem (nicht ganz neuen) Tanz um die Sessel, die am Ende die Bühne vollstellen, dann geschieht das nur, um körpersprachlich all die verdrehten Beziehungen der Figuren zu demonstrieren. Hier besteht keinerlei Gefahr bewußter Zerstörungswut, wie man sie auf dem Theater schon zu oft erlebt hat.
 
Andreas Kriegenburg ist, wie so oft, sein eigener Bühnenbildner. Im ersten Teil wird die Szene von einer über die Bühnenbreite laufende Veranda beherrscht, in der das Hin und Her der Figuren, hinein, hinaus, kreuz und quer, all ihre Unruhen und Unsicherheiten reflektiert. Im zweiten Teil ist die Veranda in den Hintergrund gerückt, und der Hof im Vordergrund ermöglicht dann später das schon zitierte, hoch komplizierte, als Regie-Virtuosenstück bemerkenswerte „Sessel-Spiel“.
Im Zentrum des Geschehens steht Natalya, die müßige, pflichtenlose Frau eines Gutsbesitzers: Franziska Junge spielt die Leere ihres Lebens und die hektische Suche nach einem Gefühl, nach irgendeiner Art von Intensität, nach Sich-Lebendig-Fühlen immer an der Kippe, immer wieder auch körperlich abstürzend. Und doch – wenn sie ein Rad schlägt, ist das nicht eine realistische Handlung, sondern Ausdruck ihrer verzweifelten Hilflosigkeit. Als sie plötzlich Gefühle für einen sehr jungen Mann entwickelt, ist sie aus der Bahn geworfen, verliert den Boden unter den Füßen, findet sich permanent am Rande des Nervenzusammenbruchs. Sie ist der Fokus, um den sich alles dreht, das Licht, um das alle flattern, fasziniert und geängstigt zugleich.
Und da sind die Männer rund um sie. Der Gatte Arkadij, einer der liberal-beflissenen Gutsbesitzer, die sich auch ihren „Seelen“ gegenüber korrekt verhalten wollen, aber letztlich an der eigenen intellektuellen Überlegenheit scheitern. Immerhin, auf beruflicher Ebene ist er kompetenter als auf privater: Isaak Dentler strahlt die Ratlosigkeit eines Mannes aus, der mit den Zuständen der Gattin gänzlich überfordert ist.
Ratlos ist auch Rakitin, seit Jahren in Natalya verliebt (tatsächlich hat er gleichzeitig mit Arkadij um sie geworben, aber sie nahm den anderen). Von ihr aus Lageweile aufs Gut zitiert, läßt sie ihn dann links liegen. Schmerzlich macht Felix Rech die Enttäuschung des Mannes klar, der hofft und hofft, bis er schließlich aufgibt.


Ensemble, vorn Mitte Isaak Dentler - Foto © Birgit Hupfeld
 
Und da ist dann der junge Mann, um den sich alles dreht, Katalysator im Gefühlsleben von dreien der fünf Damen, die sich hier am Land aufhalten: Natalya, ihre Pflegetochter (eigentlich uneheliche Stiefschwester) Vera und auch das Dienstmädchen Katja werfen ihre begehrlichen Blicke auf den jungen Hauslehrer, für den der junge, aus dem SCHAUSPIELstudio kommende Owen Peter Read eine Idealbesetzung darstellt. So blond, so hübsch, fast noch ein Junge, dem das Schicksal Armut auferlegt hat, was ihn – unter der Fassade strahlender erotischer Verlockung – Strategien auferlegt, durchs Leben zu kommen. Wie verhält man sich unter verliebten Frauen, wenn man genötigt ist, die Stellung auf diesem behaglich-opulenten Landgut zu behalten? Das gibt der Figur etwas Schillerndes.
Der alte Englischlehrer (skurril: Michael Benthin), der diesen jungen Mann empfohlen hat, ist dessen alte Variation, der vom Leben nichts mehr zu erwarten hat und sich schmarotzerhaft auf dem Gut versorgt, unter dem Vorwand von ein paar Englischstunden für den kleinen Sohn, um den sich nur das Personal kümmert, kaum die Eltern.
An Männern gibt es im Haushalt noch den gelegentlich auftauchenden Doktor, eine wahre Tschechow-Gestalt, den Oliver Kraushaar in seiner Misanthropie brillant charakterisiert und gleichzeitig parodiert, wie Kriegenburg überhaupt nie vergisst, daß Stücke dieser Art von den Autoren als Tragikomödien gemeint sind, die Figuren also auch des öfteren das Lächerliche streifen.
Da ist Bolschinzow, ein reicher alter Nachbar, der die junge Pflegetochter des Hauses heiraten will, sich eigentlich nicht traut, den Arzt als Werber vorschickt, und sich am Ende am meisten wundert, daß er Vera aus einer Verkettung wilder Umstände tatsächlich bekommt: Das ist eine prächtige Leistung von Peter Schröder, der seine Schüchternheit drollig ausspielt, aber nicht chargiert.
Und in einer Nebenrolle als Bediensteter zeigt Carlos Praetorius, daß nicht nur die noblen Leute ihren Liebeskummer haben, sondern auch das „gemeine Volk“ ganz schön jammern kann. Der Knecht, der vom Dienstmädchen verlassen wird, weil sie mehr vom Leben will, nimmt nach wehleidiger Selbstbespiegelung den Rat dankend an, er solle warten, bis sie sich ausgetobt hat. Auch das ist ein Farbtupfer inmitten eines kostbaren Ensembles
 
Noch vier Damen brillieren: Alexandra Lukas ist die Pflegetochter Vera, in unglücklich abhängiger Situation, die mit der vollen Zittrigkeit der Jugend verliebt ist, dafür kämpfen will, aber erkennen muß, daß sie gegen Natalya chancenlos ist, wenn beide den Hauslehrer für sich wollen. Immerhin, wenn sie dann aus Trotz den alten, reichen Nachbarn heiratet, macht man sich keine Sorgen um sie. Sie wird den Alten schon gängeln und die Hosen anhaben.
Heidi Ecks spielt die Mutter des Hausherren, die sich klugerweise am Rande hält und erst einzugreifen sucht, als Natalya es allzu toll treibt. Elena Packhäuser als Dienstmädchen Katja läuft als lebendige erotische Verlockung durchs Geschehen und hat es mit dem Hauslehrer am leichtesten, weil sie ihn sich locker ins Bett holt.
Und schließlich ist die Rolle der Gesellschafterin und Klavierlehrerin Lizaveta in jeder Inszenierung des Stücks ein Gustostück, und Verena Bukal (geboren in Linz, ausgebildet in Graz) nützt ihre Möglichkeiten. Formidabel, wie sie sich einerseits mit „Turban“ quasi unscheinbar macht, aber doch mit ihrer Unterwäsche wedelt und mit wehendem Haar den Antrag des Doktors anhört – den sie dann voll trockener Menschenkenntnis ablehnt. Diese Szene ist wohl der komödiantische Höhepunkt des Stücks, das viele Lacher erntet und letztendlich doch so intensiv traurig ist.
Welch ein Ensemble, wie phantastisch geführt. Jede Theaterstadt, die auf sich hält, muß Frankfurt um eine Aufführung wie diese beneiden.
 
Besucht wurde die Vorstellung am 30. April 2017
 
Renate Wagner