Eine nicht abgeschlossene Suche?

Bodo Kirchhoff – „Mexikanische Novelle“

von Frank Becker

Sitz im Leben
 
Eine nicht abgeschlossene Suche?
 
Ein Journalist aus dem Breisgau fliegt mit einer Presse-Gruppe in die USA, um auf dem Luftwaffenstützpunkt Murdock Air Base im Auftrag seiner Zeitung für ein Porträt eines jungen deutschen Kampfpiloten zu recherchieren. Er findet ihn in Leutnant Ritzi. Vor dem Rückflug nach Deutschland trennt er sich von der Gruppe, zu der auch seine Freundin, die Fotografin Marlies gehört, fährt mit einem Taxi ins nahe Mexiko und nimmt in einem schäbigen, fast leeren Hotel in Juarez ein Zimmer. Am Hotel-Pool triift er die junge, laszive Mexikanerin „Baby Ophelia“ Gouadeloupe, deren Bruder Emiliano das schmuddelige Hotel gehört. Sie macht ihm unverhohlen Avancen. Eine verhängnisvolle, schwül erotische Affäre beginnt, in der Ophelias Bruder, aus dem Hintergrund agierend, keine unwesentliche Rolle spielt. Auf Baby Ophelias Bitte hin reist der Ich-Erzähler, der jedem anderen in der Novelle außer sich selbst einen Namen gibt, weiter nach Acatlán, wo er sich im empfohlenen Hotel einmietet, um Ophelia dort zum Sex zu treffen. Nach wenigen Tagen schrankenloser Erotik in der Sommerhitze des stickigen Hotelzimmers mit Baby Ophelia fällt nach dem heißen Sex schließlich das Stichwort „Marriage“ und Emiliano erscheint wieder, dem offenbar auch das Hotel in Acatlán gehört.

Aber auch der Luftwaffen-Leutnant steht plötzlich auf dieser immer irrealer wirkenden Bühne und quartiert sich beim Protagonisten ein. Ein hübscher, aufmerksamer junger Toilettenmann des Hotels spielt eine verwirrende Rolle. Nacheinander erkranken der Erzähler und der Leutnant an einem Virus – Kirchhoff beschreibt die Symptome mit weit mehr Eindrücklichkeit als den einerseits obsessiven, andererseits fast gleichgültigen Sex mit Ophelia -, der Toilettenmann wird aus nicht genannten Gründen von der Polizei abgeführt, der Leutnant im gemeinsamen geteilten Hotelzimmer in einem monströsen Rachefeldzug aus verletzter Ehre erstochen und der Erzähler unter Mordverdacht festgenommen. Alle Personen bleiben undurchsichtig. Im Untersuchungsgefängnis, wo unser Erzähler und der schlanke Toiletten-Knabe aus unerfindlichen Gründen in eine gemeinsame Zelle gesteckt werden, entwickelt sich das letzte aberwitzige Kapitel.
 
Vor 33 Jahren, im Jahr 1984, erschien Bodo Kirchhoffs „Mexikanische Novelle“ erstmals und wurde hoch gelobt. Jetzt wurde dieser Text Kirchhoffs in einer vom Autor neu erarbeiteten Fassung vorgelegt, „die das Filmische des Stoffes betont“. Ob die „vollständige Neubearbeitung der erstmals 1984 veröffentlichten Novelle“ das Produkt verbessert, kann ich nicht beurteilen, da ich die 1984er Fassung nicht gelesen habe. Wenn aber sie „schlechter“ war als die Neufassung, muß sie in der Tat sehr, sehr schlecht gewesen sein. Bodo Kirchhoffs sprachlich zweifellos interessante Novelle mit ihren teils vorhersehbaren, teils abstrusen Wendungen stürzt auch den gutwilligen Leser in Verwirrnis, einen unangenehmen Zustand aus Vakuum und Chaos. Die oft jeder Logik widersprechenden Spielarten menschlichen Verhaltens, die sichtbare Sprunghaftigkeit des Textes, die meinetwegen geplanten logischen Brüche hinterlassen den bitteren Geschmack des Unfertigen.
War und ist die Erzählung eine noch immer nicht abgeschlossene Suche Bodo Kirchhoffs nach sich selbst, ist sie eine intime Öffnung zur Bewältigung seiner Vergangenheit, in der er „als 12-jähriger Schüler vom Kantor seiner Evangelischen Internatsschule am Bodensee mehrfach sexuell missbraucht wurde“? Nach seiner eigenen Einlassung geht es in seinem Werk „stets um eine Versöhnung von Sexualität und Sprache“. Die ist hier nicht gelungen.
 
Bodo Kirchhoff – „Mexikanische Novelle“
© 1984/2017 Frankfurter Verlagsanstalt, 158 Seiten, gebunden, mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-627-00236-7
21,- € / 
eBook (ePUB) 14,99 €
 
Weitere Informationen: http://frankfurter-verlagsanstalt.de