Unerträgliche Erlösung

Eine Gedankensenke

von Andreas Steffens

Dr. Andreas Steffens - Foto © Frank Becker
Gedankensenke
Eine Kolumne von Andreas Steffens
senke eine ausgehöhlte form, andern dingen darin ihre gehörige gestalt zu geben’ Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch


Unerträgliche Erlösung
 
Das Leiden macht erlösungsbedürftig, wie jeder weiß, der jemals starke Schmerzen zu ertragen hatte. Daß es selbst aber der Weg zur Erlösung sei, diese Zumutung des christlichen Mythos‘ verlangt nach der Logik des credo quia absurdum: es muß richtig sein, weil es unbegreiflich ist.
Bis man entdeckt, daß einer, der starke Schmerzen leidet, versucht, sie dadurch erträglich zu machen, daß er sich anderen Schmerz zusätzlich zufügt, um den, der ihn quält, durch Überdeckung zu lindern. Wie gegen ein Gift nur ein anderes hilft. Das unerträglich qualvolle Sterben am Kreuz war als Leiden, das alle Leiden noch überbietet, bestimmt, alle in sich zu versammeln, und dadurch vom Menschen zu nehmen: der Gott, der als Mensch leidet, befreit den Menschen von allem Leid.
Aber nicht als Mensch in seiner Gestalt des irdischen Daseins, sondern als den, der an dieses Heilswerk als Verheißung der Erlösung nach dem leidbeladenen Leben glaubt. Die Erlösung durch das Opfer des grausamen Hinrichtungstodes ist nicht bedingungslos. Erst der Glaube daran läßt seiner Wirkung teilhaftig werden. Die Erlösung durch das ultimative Leiden des Menschensohnes ist gnadenlos. Sie ist für den, der sich zum Opfer bringt, so entwürdigend, wie die Würde, die er gegen sein Unglück behauptet, den Menschen zum Menschen macht. Der Gekreuzigte ist das Bild der Hoffnung als Qual: Bild ihrer Unbegründbarkeit.
Die Qual Christi verwandelt die Sterblichkeit zum Durchgang in ein anderes Leben; nicht das, das ein Mensch in der Welt zu erdulden hat. Das macht das Leiden des Gottessohnes unerträglich: mein anderes Leben im Jenseits abhängig wissen zu sollen vom Foltertod, den einer für alle auf sich nahm.
Das Evangelium der Liebe verlangt von seinem Bekenner, die Liebe zu verleugnen, niemanden für einen leiden zu lassen. Der Glaube an die Liebe Gottes verlangt den Verzicht auf ihren tiefsten menschlichen Impuls, dem anderen Leid zu ersparen. Als Grenzwert dieser Bereitschaft hebt das Opfer die Liebe auf, die dem Gottessohn gebot, es auf sich zu nehmen.
Das Werk der Erlösung ist nicht human. Im Zeichen des Kreuzes zeigt das Christentum sein Scheitern. Sein Opfermythos dementiert sein Liebesgebot. So sehr, daß es zu einem christlichen Motiv wird, kein Christ zu sein.
Im Zeichen des Kreuzes entstand die zweite Kultur Europas nach dem Ende der Antike. Als Mittel der Verbreitung des christlichen Mythos, hat sich die europäische Bildkunst bis heute nicht von ihm als ästhetischer Grundform und kompositorischer Matrix lösen können. Noch in der abstrakten reinen Farbmalerei folgt das Bildgeschehen den Suggestionen der Spannungen zwischen Horizontale und Vertikale, die sich in der transversalen Bewegung auf der Fläche bilden.
Der Mythos, den die Bildkunst ein Jahrtausend lang verkündete, ist die Auslegung eines Schreis. Des Schreis, mit dem die christliche Erlösungslehre beginnt. Nach dem Evangelium des Matthäus endet die Passion Jesu am Kreuz mit einem letzten Schrei, in dem sich das Unglück der Welt so gewaltig versammelt, dass die Erde erbebt.
 
Evangelist: Und von der sechsten Stunde an ward eine Finsternis über das ganze
Land, bis zu der neunten Stunde. Und um die neunte Stunde schriee Jesus laut und sprach:
Jesus: Eli, Eli, lama asabthani!
Evangelist: Das ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen! Etliche
      aber, die da stunden, als sie das höreten, sprachen sie:
Chor (1): Der rufet den Elias.
Evangelist: Und bald lief einer unter ihnen, nahm einen Schwamm und füllete ihn
mit Essig, und steckete ihn auf ein Rohr und tränkete ihn. Die andern aber sprachen:
Chor (2): Halt, laß sehen, ob Elias komme und ihm helfe?
Evangelist: Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.
 
(Bach, Matthäuspassion, Nr. 71, Rezitativ)
 
 
Dieser bedeutendste Tod blieb schuldig, was von bedeutenden Sterbenden erwartet wird: letzte Worte, die dem Bedürfnis nach Bezeichnung der Bedeutung seines Lebens pointierten Ausdruck gäben. Seine allerletzte Äußerung war ein wortloser Schrei. Die letzten Worte dessen, der das Unglück zwar nicht aus der Welt, aber von der Bedeutung des Menschenlebens genommen haben soll, am Beginn seiner Agonie war Ausdruck der Verzweiflung gewesen: „Warum hast du mich verlassen?“. Wie müßte der wortlose Tod des Erlösers denen, die auf sein Opfer die Verheißung von Auferstehung und ewigem Leben gründeten, nicht unerträglich werden? Seine tatsächlich letzten Worte dementieren, was er im Begriff ist, zu erwirken, indem er stirbt.
Die christliche Theologie ist Auslegung des im entscheidenden Moment ungesagt Gebliebenen, weil es sich nicht mehr sagen ließ. Das Verstummen des Verkündigers einer neuen absoluten Wahrheit im Schrei des physischen Verendens verwandelt den Tod, von dem erlöst zu haben das Dogma des ihn heiligenden Mythos behaupten wird, noch bevor er die ihm danach zugedachte metaphysische Wirkung haben konnte, zur Erlösung dessen, der damit zum Erlöser werden sollte. Das finale „Es ist vollbracht“ bei Johannes (19,30) meint diesen absoluten Überschuß dieses furchtbaren Leidens des Gekreuzigten; aber nichts garantiert, daß über die darin liegende einfache Feststellung, Jesus am Kreuz habe ausgelitten, irgendetwas bewirkt worden wäre.
Selbst in der gläubigen Zuversicht, daß stattgefunden habe, was mit dem Tod Jesu bewirkt worden sei, bleibt das metaphysische Rätsel, wie sich dies vollzogen haben könnte, ganz abgesehen davon, wie es sich ‚beweisen‘ ließe. Nichts verbürgt, daß da mehr geschehen wäre, als daß ein Leiden im Tod endete; daß, wovon dieses Leiden befreien sollte, das endgültige Unglück des Sterbens, mehr gewesen sein kann als die Erlösung eines Leidenden durch den Tod. Dieser besondere Tod, dessen Mythos von ihm behaupten wird, er sei als Erlösung vom Tod gestorben worden, geschah als eine Erlösung durch den Tod.
Das ultimative Unglück als Befreiung von ihm – Wenn mir am allerbängsten / wird um das Herze sein, / so reiß mich aus den Ängsten / Kraft deiner Angst und Pein (Bach, Matthäuspassion, Nr. 72, Choral) – dieses unauflösbare Paradox wird das Christentum als absolute Hoffnung ebenso groß werden lassen, wie deren Unverständlichkeit es dazu bestimmen wird, zu vergehen, je länger sich im irdischen Leben keine Spur dessen zeigte, was auf Golgatha erwirkt worden sein sollte. Was die Passionsgeschichte ihr an brutalem Realismus verleiht, hebt deren Dogma wieder auf. Darauf beruht die Schwäche des Christentums in der Konkurrenz mit den anderen Monotheismen, die keine derartige Unvereinbarkeit von wirklicher Lebenserfahrung und religiöser Lehre kennen.
Erhalten geblieben von dieser Identifikation eines unverständlichen Todes mit den Wirkungen des Geistes ist in der säkularen Kultur Europas die Korrelation von Schmerz und Erkenntnis, vermittelt in der künstlerischen Anstrengung, dem durch Unverstehbarkeit doppelt Unerträglichen Ausdruck zu geben. Entmythologisiert, blieb der Grundgedanke des christlichen Erlösungsmythos, dass der Tod eines anderen dem eigenen Leben Sinn verleiht, bis in die Selbstverständigungen des Künstlertums hinein wirksam.
Mit den ersten Zeilen seiner ersten Duineser Elegie hat Rilke, der sich wie wenige an dem Problem eines nachchristlichen Gottesgedankens abmühte, den Zweifel bekräftigt. Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel / Ordnungen?
Was bleibt, ist die Kraft des Schreis; darauf, sie ohne Erwartung einer Antwort zu verwandeln in die Energie der Produktion dessen, was seine Ursache bezeugen wird. So wird das Werk zum unhörbaren Schrei, der nicht mehr gehört zu werden braucht.
Den Tröstungsweg einer Jenseitsentgeltung durch Leiden nicht mitgehen zu können, setzt den Trostbedürftigen der größten Herausforderung aus, zu erproben, ob es sich ohne Trost mit dem Unglück der Welt leben lasse.
Nie hat sich die Religion mehr ihrer inneren Demütigkeit begeben, fand Rilke, nie ist sie anmaßender geworden, als wo sie meint, trösten zu können. Das Einsehen unserer Trostlosigkeit wäre zugleich der Moment, in dem jene eigentliche religiöse Produktivität einsetzen könnte, die allein zwar nicht zum Troste, aber zum redlichen Entbehrenkönnen aller Tröstung führt!
Trostlosigkeit im Verzicht auf den Untrost des Christentums aber muß nicht in Untröstbarkeit münden. Wenn Rilkes Befund, daß die Religion die Kunst der Nichtschaffenden ist, stimmt, kann Kunst werden, was Religion nicht sein kann. Was diese versagen muß, kann die Kunst gewähren. Sie ist die Zuflucht gegen die Entwürdigung des Diesseits durch die Pflicht, sich ein leidgestiftetes Jenseits zu erwerben.
Woran der Mythos des Glaubens nicht glauben machen kann, stiftet die Kunst. Was die eine Erzählung an Verwandlung schuldig bleiben muß, gewähren die Erzählungen. Das Denkbare tröstet über die Trostlosigkeit des Unausdenkbaren.
 
 
 
Andreas Steffens, Schriftsteller und Philosoph; lebt in Wuppertal; 2009 Träger des Springmann-Preises; Im NordPark Verlag: >Gerade genug. Essays und Miniaturen< und >Vorübergehend. Miniaturen zur Weltaufmerksamkeit<. Ebenfalls dort: >Ontoanthropologie. Vom Unverfügbaren und seinen Spuren<, sowie >Heimat. Zwischen Selbst und der Welt< und im Athena-Verlag die kunstphilosophische Studie >Selbst-Bildung. Die Perspektive der Anthropoästhetik<