Zum UNESCO – Welttag des Buches

Ilja Ehrenburg – „Tauwetter“

von Jürgen Koller

UNESCO – Welttag des Buches am 23. April
 
„Tauwetter“
erzählt nach Stalins Tod
von Jahreszeit, Liebe, Politik und Kunst
 
Vor 60 Jahren erschien Ilja Ehrenburgs Roman erstmals auf Deutsch
 
Wer in den Mitt-Fünfzigern die höheren Weihen schulischer Bildung in der DDR erhielt, hatte zwar etwas von Stalins Tod im März 1953 und von den „Verwerfungen der parteiinternen sozialistischen Demokratie“ in der Sowjetunion erfahren, aber nichts von den Arbeitslagern und den nach Millionen zählenden Opfern stalinistischer Verfolgungen. Mit dem sprachlichen Bild vom Tauwetter des zwischen Herbst 1953 und Frühjahr 1954 geschriebenen Romans signalisierte Ilja Ehrenburg den Beginn der politischen Tauwetter-Periode, vor allem eine gewisse Liberalisierung der sowjetischen Kulturpolitik. Beim sowjetischen Lesepublikum vom Baltikum bis zum fernen Sibirien fand das Werk, anfänglich in der Zeitschrift Snamja (Fahne) veröffentlicht, viel Zustimmung. Ganz im Gegenteil zu den Reaktionen in den Sowjet-Literaturzeitschriften, wo es vernichtende Kritiken erhielt, etwa von den Schriftstellern Konstantin Simonow oder Michail Scholochow. Erst nach zwei Jahren lag es deshalb in Buchform vor. Selbst Parteichef Nikita Chruschtschow verwarf noch Jahre später (1963) Tauwetter als eines der Werke, die „die mit dem Personenkult zusammenhängenden Ereignisse […] falsch oder einseitig beleuchten“. Dieser auch für die DDR-Kulturpolitik wichtige Roman erschien bereits 1957 im Ost-Berliner Verlag Kultur und Fortschritt erstmalig auf Deutsch. Der Verlag war seinerzeit spezialisiert auf Sowjet-Literatur und wurde in den Sechzigern in den Ost-Berliner Verlag Volk und Welt eingegliedert. Obwohl die politische Tauwetter-Problematik für den ostdeutschen Literaturbetrieb so wichtig gewesen wäre, wurde damals Ehrenburgs Roman kein Lehrstoff an den höheren Schulen. Das war politisch so gewollt.
 
Ehrenburgs Roman spielt im Winter 1953/54 in einer nicht näher benannten „Provinzstadt an der mittleren Wolga“ in den Monaten des Umbruchs nach des Diktators Tod. Die Stadt lebt von einem großen Werk für Werkzeugmaschinen. Nicht die Arbeiter, wie man erwarten könnte, sind die Hauptakteure des Romans, sondern die Angehörigen der technischen Intelligenzia. Für alle Gestalten des Romans ist das Bemühen um „Veränderung der bestehenden dogmatischen, fast zu Eis erstarrten Auffassungen über Ehe, Liebe, Kunst, Erziehung“, aber auch über Pflichterfüllung und Arbeitsethos wesentlicher Teil ihrer Lebenswirklichkeit. Und so löst sich der Autor Ehrenburg vom seit den frühen dreißiger Jahren verbindlich-starren Dogma des „sozialistischen Realismus“ in Kunst und Literatur. Seine Helden sind weder Träger der reinen Lehre der kommunistischen Ideen, verkörpern nicht das „Typische“ im Sowjetmenschen und vertreten keineswegs die gewünschte Volksverbundenheit. Ganz im Gegenteil, da ist der Werkleiter Schurawljow, ein mittelmäßiger Verwaltungsmensch, der gefühlskalt und herzlos nur den Produktionsplan im Auge hat, nicht aber die ihm anvertrauen Mitarbeiter. In seiner hohlen, aufgeblasenen Art, spürt er auch nicht, daß sich seine Frau Lena, die nach sechs Jahren Ehe von ihm keine Liebe mehr erfährt, dem Ingenieur Korotenko zugewandt hat. Seine verächtliche Haltung, hier im Gespräch an seine Frau gewandt, äußert sich in solchen Sätzen wie: „Achte weniger auf die Schattenseiten (des Lebens), dann gibt es sie auch weniger, das steht fest“, oder „man darf im Umgang mit den Leuten nicht zimperlich sein“. Aber bei einem Feuer im Werk hat er seine Fassung behalten und umsichtig gehandelt. Schuraljow, der zugunsten von Investitionen ins Werk den Bau der immer wieder geforderten Arbeiterwohnungen aufgeschoben hat, wird als Werkleiter von Moskau abgesetzt, nachdem ein Frühlingssturm halbverfallene Arbeiter-Wohnbaracken zerstört hat. Ehrenburg zeichnet Schuraljow trotz aller charakterlichen Defizite zwar als einen stalinistischen Bürokraten, nicht aber als generellen Bösewicht.
 
Neben der Liebesgeschichte zwischen der Lehrerin Lena, die von ihrer Direktorin drangsaliert wird, und dem Ingenieur Korotenko, der eingangs des Romans bei einer Literaturdiskussion im Betriebsklub noch in voller Überzeugung von sich gab, „daß es für persönliche Dramen in der Literatur keinen Platz“ hat, sind weitere Liebesbeziehungen eingeflochten. Die nicht mehr junge Ärztin Wera Scherer, wohl Jüdin, die unter der von Stalin initiierten „Ärzteverschwörung“ in Bedrängnis gekommen war, und der eigenbrötlerische Sonderling Oberingenieur Sokolowski, einem klugen Kopf mit musischen Interessen, der auch äußerlich hervorsticht: übergroß, hochgewachsen, soldatisch straff, mit kurzem grauen Haar und blauen Augen, finden am Schluß des Romans ebenso zusammen wie die spröde Sonja, die nach ihrem Studium der Elektrotechnik in die Stadt Pensa beordert wird, und der junge Ingenieur Sawtschenko, der das neue Denken mit solchen Worten verdeutlicht: „Die Leute reden persönlich politisch korrekt, handeln im Privatleben ganz anders“. Eine liebenswerte Figur ist der pensionierte Lehrer Puchow, der sich als alter kranker Mann noch immer für Jungen engagiert, deren Väter im Krieg gefallen sind. Wie überhaupt der Krieg, aber auch der Stalin-Terror in der Romanhandlung zwar kein unmittelbares Thema ist, aber immer wieder ins Spiel gebracht wird. Da sind der Werkleiter und sein Oberingenieur tapfere Soldaten gewesen – letzterer schon im Bürgerkrieg gegen die Weißen, da ist die Ärztin Wera, deren Mann gefallen und deren Mutter von den Deutschen ermordet worden ist , da ist der Stiefvater von Korotenko, ein Biologe, nach langen Jahren der Lagerhaft in Sibirien endlich frei gekommen, da wird auf die Rehabilitierung unschuldig verhafteter oder umgebrachter Sowjetbürger verwiesen. Erstmalig in der Sowjet-Literatur werden die beiden zuletzt genannten Themen angesprochen.
 
Entstalinisierung, der politische Wandel in der Sowjetunion, der Korea-Krieg, der Kalte Krieg, die Ängste vor einem neuen Waffengang, aber auch der offenere Umgang der Menschen miteinander fließen in die Romanhandlung ein, genauso wie die miese Versorgungslage, der eklatante Wohnungsmangel und die kaputten Straßen in der Provinzstadt. Die großen Ereignisse im fernen Moskau, ohne daß sie direkt einbezogen werden, treiben das Romangeschehen als Fernwirkung latent voran. Übrigens erwähnt Ehrenburg den Namen Stalin nicht ein einziges Mal.
Den Roman durchzieht noch eine aktuelle Kunstdebatte zwischen dem jungen Maler Puchow, Sohn des pensionierten Altlehrers, und dem Landschaftsmaler Saburow. Ersterer gibt sich als Zyniker, ist frustriert und ohne künstlerische Werteorientierung. Er malt in sozialistisch-realistischer Manier Auftragsarbeiten, „sozialistische Arbeitshelden“, nicht ungeschickt, aber künstlerisch völlig belanglos, doch gut vom Staat honoriert. Seine Überzeugung: „Eigentlich pfuschen alle mehr oder weniger – alle lavieren, mogeln, schwindeln“. Saburow dagegen, bitter arm, malt aus innerer Überzeugung stimmungsvolle Landschaftszenen und feinsinnige Porträts im Selbstauftrag. Ehrenburg greift hier die offizielle sowjetische Kunstpolitik an, die nichtkonformen Künstlern ohne Presse-Renommee keine Ausstellungs- und Ankaufschancen gewährt. Und doch bekommt der Maler Wolodja Puchow, dessen künstlerische Zukunft im Ungewissen verbleibt, von Ehrenburg die symbolträchtige Handlung „Tauwetter“ zugedacht: „ An einem Frühlingstag im Stadtpark erlebt er sinnlich das Auftauen der Gefühle und Strukturen und findet Schneeglöckchen unter dem Eis für die Schauspielerin Tanetschka, die sich eben von ihm getrennt hat“.
Was den Roman, trotz seines schlichten Handlungsrahmens, für uns heute noch lesenswert macht, ist Ilja Ehrenburgs 'unmittelbare, authentische Sicht' auf das Erwachen der Sowjet-Gesellschaft nach den Jahren des Terrors und auf das Leben der Russen der Jahre 1953 /54.
 
Ilja Ehrenburg – „Tauwetter“
© 1957 Verlag Kultur und Fortschritt, 327 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag
Ins Deutsche übersetzt von Wera Rathgeber
Nur noch antiquarisch zu bekommen