Unsere Welt aus Cyber-Glanzbildchen

Roger Willemsen - „Wer wir waren“

von Frank Becker

© 2016 S. Fischer Verlag
Eine Welt aus Cyber-Glanzbildchen
oder
Ein Leben in Clip-Geschwindigkeit
 
„Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit,
aber bei dem Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.“
Albert Einstein
 
Wer je das Glück hatte, Roger Willemsen kennenzulernen, wird einen liebenswerten, sanften Menschen von ausgeglichenem Gemüt und leisem Humor in Erinnerung haben. Am 7. Februar 2016 ist der Publizist, Autor und Fernsehmoderator im Alter von 60 Jahren gestorben.
 
Das Buch, an dem Roger Willemsen zu dieser Zeit arbeitete, sollte „Wer wir waren“ heißen. Es sollte mahnen, die eklatanten Fehler und Versäumnisse der Gegenwart und ihre fatalen gesellschaftlichen Folgen mit dem Blick folgender Generationen, die nach uns leben werden, vorauszusehen. Er hat es nach seiner Krebsdiagnose nicht mehr geschrieben. Die Rede unter dem nämlichen Titel, die Roger Willemsen eine „Zukunftsrede“ nannte und die er am 24. Juli 2015 im Rahmen der Festspiele in Mecklenburg-Vorpommern auf dem Guthof Landsdorf hielt, blieb erhalten, ein Exzerpt des begonnenen Buchmanuskripts. Sie ist sein Vermächtnis geworden. Obwohl nur 60 Seiten stark, ist das posthum vom S. Fischer Verlag herausgegebene schmale Bändchen mit dem von Insa Wilke redigierten Redetext von unerhörter Substanz. Es zeigt Roger Willemsen nicht nur als den Menschen mit Weitsicht, als den man ihn kannte, sondern als Philosophen und Moralisten von hohem ethischem Rang. „Sie ist nicht nur das melancholische Resümee und die scharfe Analyse eines außergewöhnlichen Zeitgenossen, sondern zugleich das leidenschaftliche Plädoyer für eine Abspaltung aus der Rasanz der Zeit. Sie ist ein Aufruf an die nächste Generation, sich nicht einverstanden zu erklären“, schreibt der Verlag dazu.
 
„Woher nehmen wir nur all unser Nichtwissen?“
 
Nun legt Willemsen den Finger nicht nur in die schwärende aktuelle Wunde, weist auf die selbstgemachten Gefahren durch Klimaerwärmung, Übersäuerung der Meere, Abschmelzen der Gletscher, Migration, Burnout, Dürre, Glauben- und Handelskriege, Ansteigen des Meeresspiegels, Anwachsen der Wüsten, Ressourcenknappheit, Überbevölkerung, den Irrwitz der allgemeinen Beschleunigung, die Verstümmelung der Sprache, Artensterben, maßlosen Konsum, Rapid Eye Movements, Techno Beats und multiresistente Keime hin. Er zeigt auch auf, daß schlimme Irrtümer auch in den zurückliegenden Jahrhunderten gemacht wurden, indem er u.a. Giambattista Vico (1725) zitiert: „Zuerst fühlen die Menschen das Notwendige, dann achten sie auf das Nützliche, darauf bemerken sie das Bequeme, weiterhin erfreuen sie sich am Gefälligen, später verdirbt sie der Luxus, schließlich werden sie toll und verderben ihr Erbe.“
Daß wir genau dort angekommen sind und eine Informationsgesellschaft wie die unsere daraus keine Schlüsse zu ziehen vermag ist tragisch. Willemsen zitiert auch T.S. Eliot: „Where ist he wisdom we lost in knowledge? Where ist he knowledge we lost in information?“ Dauernd erhöhen wir unser Tempo, „dauernd öffnen sich neue Räume und in diesen wieder neue, des Konsums, der Serviceangebote, und die Apparate emanzipieren sich. (…) Die Souveränität ging von den Staaten auf Finanzsysteme und Konzerne über.“
 
Welche Kraft das Buch gehabt hätte, läßt sich ahnen, liest man diesen Text – oder läßt ihn sich von dem profilierten Sprecher Christian Brückner vorlesen, der vom Label tacheles!/Roof Music für das begleitende Hörbuch gewonnen werden konnte. Brückner spiegelt den Willemsenschen Duktus in idealer Weise, weiß an den erlesenen Text zu fesseln.
Willemsen stellt Fragen: „Was machen wir gerade mit dieser Welt und unserem Leben? Warum machen wir das? Und warum machen wir es nicht anders, obwohl wir wissen, daß wir so in die Katastrophe schlittern? Woher nehmen wir nur all unser Nichtwissen?“
Es ist ein brillanter, geistreicher, aber auch verzweifelter Text in der Erkenntnis der Dummheit der Menschen. Das Buch hat unsere Auszeichnung, den Musenkuß, redlich verdient. Wir empfehlen es jedermann dringend zur Lektüre und empfehlen es als Lehrstoff für alle weiterführenden Schulen. Unser Buch und unser Hörbuch des Monats.
 
„Wir waren jene, die wußten, aber nicht verstanden, voller Informationen,
aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung.
So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.“
Roger Willemsen
 
Roger Willemsen – „Wer wir waren“
Zukunftsrede – hrsg. v. Insa Wilke
Buch:
© 2016 S. Fischer Verlag, 60 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag - ISBN: 978-3-10-397285-6
12,- €  -  www.fischerverlage.de
CD:
© + (P) 2016 tacheles! / Roof Music
Gelesen von Christian Brückner
Kapitel: 1 Wer wir waren - 2 Die Welt altert in Schüben... - 3 Wo Zeitungen und Fernsehprogramme… - 4 Wir können diese Vorstellungen... - 5 Machen wir von hier einen Sprung... - 6 Halten wir kurz inne... - 7 Nach seiner Rückkehr... - 8 Gemessen am Pathos... - 9 Zu keiner Zeit... - 10 Neu ist vielleicht nicht... - 11 Gewiß, so sprechen... - 12 Wir kamen aus einer Zeit... - 13 Zuerst fühlen die Menschen... - 14 Auf unsere Zeit übertragen... - 15 Unser Beitrag zu dieser Geschichte... - 16 Wir waren die... - 17 Doch nicht damit will ich enden...
Spieldauer: 72 Minuten - ISBN-10: 3864844401, ISBN-13: 9783864844409
www.roofmusic.de