Haltestellen des Lebens

Safiye Can – „Rose und Nachtigall“ + „Diese Haltestelle hab ich mir gemacht“

von Frank Becker

         

© 2014 Größenwahn Verlag   © 2015 Größenwahn Verlag

Haltestellen des Lebens
 
Auch im Schmetterling liegt Kraft,
Verletzlichkeit im Stier.
Safiye Can
 
Auch im 21. Jahrhundert funktioniert sie noch: Lyrik – wenn, ja wenn sie aus der Feder einer Dichterin wie Safiye Can kommt. Ihr unverstellter Blick auf die Realitäten des Lebens, gepaart mit tiefem Humor und Empathie ist ein Genuß, und ihre beiden Gedichtbände „Rose und Nachtigall“ und „Diese Haltestelle hab ich mir gemacht“ (Größenwahn Verlag, Frankfurt/M.) sind gedanklich wie sprachlich eine Offenbarung. Das hat sehr schnell viele Leser überzeugt, weshalb die Bücher jetzt bereits in vielfacher Auflage vorliegen und es war für zwei Gesellschaften Grund genug, sie bereits mit ihren Literatur-Preisen des Jahres 2016 auszuzeichnen: dem Else Lasker-Schüler-Lyrikpreis und dem Alfred Müller-Felsenburg-Preis.
 
Inkognito
 
Auf einer Skala von eins bis zehn

Safiye Can - Foto © Frank Becker
wären wir als Paar unter aller Sau.
Am liebsten setzte ich dich aus
an der A4
damit du nicht zurückfändest zu mir
ich nie wiederfände deine Knautschblicke.
Könntest dir einen Bart wachsen lassen
 
ich färbte mein Haar.
Mit großen Sonnenbrillen flögen wir
wie Moskitos voneinander weg
und prallten doch wieder aufeinander
trügen Baseballcaps, inkognito
verwischten unsre Spur mit Universalreiniger
zeigten der Forensik den Stinkefinger
und beklebten unseren Mund mit Panzertape
damit er ja nie mehr spräche
von Liebe.
 
Gedankenspiele, Selbstreflexion (sehr gerne auch ironisch), augenzwinkernder Humor, aber auch tiefe Trauer, Flashbacks, Traumsequenzen und stets Gefühl, viel Gefühl – das ist der Stoff, aus dem Safiye Cans Gedichte sind. Tscherkessisch-türkische Einflüsse ihrer genuinen Herkunft mischen sich mit der mitteleuropäisch-deutschen Sprach- und Kultur-Sozialisation der Dichterin in ihrer einzigartigen Lyrik. Alltagsbegegnungen, Streiflichter stehen neben tiefen Gedanken, und spielerisch wirkender Figuren-Dichtung, geben der Sinnhaftigkeit und Größe der Lyrik Safiye Cans vielfältige Gestalt. Die Lektüre der thematisch gefassten Kapitel ist wie ein Spaziergang durch viele Straßen und um viele Ecken – hinter deren jeder eine Überraschung, eine Pointe, eine Erkenntnis wartet.
Safiye Can macht sich analog zum Titel ihres zweiten Gedichtbandes nicht nur eine Haltestelle, sie macht sich eine Welt, eine eigene Sprache. Die teilt der Leser gerne mit ihr, hat er doch das Gefühl, ihr dadurch nahe genug kommen zu können, um sie zu verstehen. Es gibt sicher keine andere Literaturgattung, in der sich die Seele des Verfassers konzentrierter widerspiegelt. Safiye Cans Lyrik bedarf keiner Interpretation, sie bedarf einzig des Verständnisses. Wer das gefunden hat, den beseelen ihre Gedichte. Und nichts anderes möchte sie damit erreichen. Es ist Genuß, der auch unsere Auszeichnung verdient, den Musenkuß.
 
Aber Philosophie ist nicht auf der Schulbank

Safiye Can - Foto © Frank Becker
ist im Leben selbst
Sie dürfen das Buch nicht im Regal lassen
müssen es raustragen
aufklappen und die Worte überall hinstreuen
auch die Punkte, auch die Semikolons.
Er schoss mit freundlichen Pfeilen auf mich
er wusste nicht, dass Pfeile Pfeile waren
das macht nichts
diese Haltestelle hab ich gemacht.
 
Safiye Can – „Rose und Nachtigall“
© 2014 Größenwahn Verlag, 126 Seiten, gebunden - ISBN: 978-3-942223-64-5
Vorworte von Gerhard Csejka und Michael Starcke, Nachwort von Murat Tuncel,
einige Übersetzungen ins Englische von Hakan Akcit
16,90 €
 
Safiye Can – „Diese Haltestelle hab ich mir gemacht“
© 2015 Größenwahn Verlag, 118 Seiten, gebunden - ISBN: 978-3-95771-049-9
Nachwort von Michael Starcke, einige Übersetzungen ins Englische von Hakan Akcit, Grafiken von Ferdi Tosunlu
16,90 €
 
Weitere Informationen: www.groessenwahn-verlag.de