Vom Zauber der Freundschaft

Sempé – „Freundschaften“

von Frank Becker

© 2016 Diogenes Verlag
Vom Zauber der Freundschaft
 
„…dabei ist Lotte einfach nur altmodisch:
Sie nimmt Freundschaften ernst.“
(Martha Gellhorn in
„Muntere Geschichten für müde Menschen“)
 
 
Wieder und wieder hat Jean-Jacques Sempé uns in und mit seinen Bildern die Seele der Freundschaft gezeigt. „Ich versuche es“, sagt er bescheiden selbst dazu. Anmutig sind diese typischen leichten Zeichnungen, zart und liebenswert in Strich und Aussage, stets von großer Menschenliebe getragen und gelegentlich auch bittersüß melancholisch.
Ein Mann, ein Künstler, der mittlerweile das 84. Lebensjahr vollendet hat, darf mit Fug und Recht bilanzieren. Sempé tut es in seinem jüngsten Buch, und er tut es zu ebendiesem, seinem bevorzugten Thema: „Freundschaften“. Im Gespräch mit dem Journalisten Marc Lecarpentier definiert er, von Lecarpentier sensibel befragt, den Begriff der Freundschaft, er reflektiert  über das Leben schlechthin, die Freunde, die er gefunden und verloren hat und die Variationen und Voraussetzungen zu dem, was er als Freundschaft empfindet.
 
„`Freundschaft erfordert Zurückhaltung, Ehrlichkeit und Treue.´ Das klingt so einfach. Erst als Sempé, sehr jung, zu zeichnen anfängt, findet er Freunde – indem er sie (oft im Duo mit René Goscinny, Patrick Süskind oder Patrick Modiano) erfindet: den kecken kleinen Nick, den chronisch errötenden Benjamin Kiesel, den geheimnisvollen Fahrradhändler Paul Tamburin – unsterbliche Freunde in allen Lebenslagen, auch für seine Millionen Leser.“ So steht es im Klappentext des wunderschönen Bildbandes, den der Diogenes Verlag mit dem Interview und einer opulenten Auswahl aus den teils farbigen, teil schwarz/weißen berückenden Zeichnungen Sempés, gestaltet hat.

Beim Betrachten - Vorsicht, man verliert sich leicht! – der zauberhaften Bilder und der gelegentlich kommentierenden Dialog-Zeilen versteht man dank seiner sicheren Hand, was Sempé im Interview zu dem so vielschichtigen Prozeß des Findens einer Freundschaft, zu ihrem beredten oder unausgesprochenen Status und zu all den vielen Möglichkeiten und Definitionen des Themas erzählt. Ob es die distanzierte „Sie“-Freundschaft zwischen gestandenen Männern, das schwesterliche Miteinander gleichgesinnter Damen, das Unbeschwerte oder auch Streitbare einer Freundschaft zwischen halbwüchsigen Jungs oder Kindern schlechthin ist, die kein Falsch kennt – Sempé trifft auf der großen Skala stets den richtigen Ton. Man lernt, daß zum Freund sein vor allem Respekt gehört, daß eine Freundschaft auf dieser Basis durchaus auch zwischen Mensch und Tier möglich ist und neben dem gegenseitigem Respekt der Verzicht auf Gegenleistung zur Essenz der Freundschaft gehört.
„Das Wunder der großen unverbrüchlichen Freundschaft – das schwebt als Leitidee über den vielen Einzelgängern in Sempés Welt, den großen wie den kleinen. Davon träumen sie, und davor schützen sie sich auch, aus Angst, zu scheitern und dann wieder allein zu sein – tapfer, erfinderisch, in würdevoller Komik, nie lächerlich. Freundschaft ist bei Sempé schwieriger als Liebe und dennoch nachhaltiger, findet er.“ So abermals der Verlag.
 

© Sempé

Schon früher habe ich beim Anschauen von Sempé-Cartoons und -Zeichnungen dem Gefühl nachgespürt, was da mit mir passiert und bin dann ganz selbstverständlich zu dem nächstliegenden und nur logischen Ergebnis gekommen, das sich auch jetzt wieder bestätigt: Sempés Bilder werden beim Betrachten zu Freunden. Jean-Jacques Sempé, am 17. August 1932 in Bordeaux geboren, hat die Fähigkeit, mit einer einzigen Zeichnung ein ganzes menschliches Universum zu erfassen. Er mag die Menschen, ihre kleinen, mitunter skurrilen Eigenarten und vor allem das Liebenswerte, das er überall zu finden weiß. Mit jeder seiner Zeichnungen wird das eins ums andere Mal deutlich. Und er schaut genau hin. Sein Blick ist aufmerksam, sehr liebevoll und höchst subtil den Details zugetan, welche seine Figuren in ihren alltäglichen oder kuriosen Lebenssituationen charakterisieren.
Er gehört zu den Poeten unter den Zeichnern, den wundervoll detailverliebten großen Könnern seines Genres. Jede seiner Zeichnungen erzählt. Vor allem aber strahlt auch dieses Buch wieder seine unerschütterliche Menschenliebe aus.
Jean-Jacques Sempé ist in diesem Jahr 84 Jahre alt geworden. Ich hoffe, daß der Philanthrop mit dem Zeichenstift auch seinen 100. Geburtstag erlebt (ich mit ihm) - und uns noch lange mit seinen liebenswerten Geschichten Freude macht.
Wenn je ein Buch, wenn ein so schön formuliertes und ins Bild umgesetztes Prinzip wie
„Freundschaft“ unsere Auszeichnung verdient hat, dann dieses: „Freundschaften“. Dafür den Musenkuß.
 
„Viele Freunde sind zu viele Freunde.“
(Sempé)
Sempé – „Freundschaften“
Ein Gespräch mit Marc Lecarpentier
Aus dem Französischen von Patrick Süskind
© 2016 Diogenes Verlag, 152 Seiten, Ganzleinen 23 x 32 cm, mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-257-02137-0
40,- € (D)  / 54,-* sFr / 41,20 € (A)