Scheitern

Lukas Hartmann – „Ein passender Mieter“

von Frank Becker

Scheitern
 
Für den nach Glückseligkeit strebenden Menschen kann es
kein schlimmeres Übel geben als die innere Zerrissenheit.
Karl Barth
 
Sebastian Sandmaier vollzieht die längst fällige Abnabelung vom Elternhaus, wo er einen Anbau bewohnt hatte und zieht in eine Studenten-Wohngemeinschaft. Seine überfürsorgliche Mutter Margret leidet sehr bald unter der Leere. Sie überzeugt ihren Mann, den nun leerstehenden Trakt zu vermieten. Bei der Wahl des Mieters, die auf einen jungen Fahrradmechaniker fällt, ist sie die entscheidende Instanz. Ein Sohn-Ersatz zum Kümmern wäre ihr schon recht. Der „passende Mieter“ erweist sich als unauffällig und höflich, aber auch wortkarg, verschlossen und kontaktscheu. Er vermeidet es konsequent, in das Leben seiner Vermieter, wohl eher der Vermieterin, hineingezogen zu werden. Ungeschickte Versuche Margrets dieserart scheitern. Es scheitern auch die schon ans Stalking grenzenden Versucht Margrets, sich ins unabhängige Leben Sebastians zurückzudrängen. Sebastian aber hält vorsichtige bis (von ihr so empfunden) verletzende Distanz. Er versucht sich nach dem Scheitern in der Medizin im Studium der Theologie – versucht sich am Werk des dogmatischen evangelischen Schweizer Theologen Karl Barth zu orientieren.
 
Margret erliegt zudem allzu willfährig den Einflüsterungen ihrer Freundin Valeria zur „Selbstverwirklichung“, die sie mehr und mehr ihrem Mann Gerhard entfremden. Dessen Zeit als Geschichtsprofessor ist, auch mit den Querelen am Arbeitsplatz, ausgefüllt, aber Margrets Teilzeitjob in der Buchhandlung und die Deutschstunden, die sie Flüchtlingskindern gibt, erfüllen sie nicht wirklich.
Als eine zunehmend brutale Serie von Überfällen eines Messerstechers auf junge Frauen in der Stadt Schlagzeilen macht und Angst der Begleiter von Frauen auf nächtlichen Straßen wird, gerät die Ehe der Sandmaiers durch mangelndes Einfühlungsvermögen Gerhards in eine erste handfeste Krise. In Margret regt sich der diffuse Verdacht, ihr Mieter, Beat Schär, könnte etwas mit den Überfällen zu tun haben. Sie gibt der Polizei aber keinen Hinweis. Als der Täter schließlich aufgrund anderer Hinweise gefaßt wird und Beat S. sich tatsächlich als das „Monster“ erweist, bricht Margret in eigenen Schuldzuweisungen völlig zusammen.
 
Lukas Hartmann baut diesen bestürzenden, verstörenden, ja quälenden Roman mit ungeheurer psychologischer Wucht, aber auch Delikatesse wechselnd jeweils aus der Sicht Margrets, Gerhards und Sebastians, sowie in der sachlichen Sicht des Erzählers auf. Das Zerbrechen von Familien- und Partnerschafts-Strukturen ist schmerzlich und unabwendbar mitzuerleben, auch das jeweilige Fehlen der Beteiligten, Schuldzuweisungen, falsche Weltsicht. Aufreibend das Klammern Margrets bei Sebastian und das von Konstanze Schär, Mutter des Täters, zu der Margret den Kontakt sucht und die sie nicht wieder abschütteln kann. In Margrets Leben bleibt nach Ausbrüchen, Psychosen, Zusammenbrüchen und Klinikaufenthalten, welche Ihre Ehe endgültig zerstören, kein Stein auf dem anderen. Hartmann kritisiert deutlich die in unserer Gesellschaft gepflegte eifrige Sorge um den Täter – während die Opfer an den Rand gedrückt und vernachlässigt werden.
 
Es ist ein Roman, der die Schwäche und das mangelnde Einfühlungsvermögen der männlichen und die unsensible, rücksichtslose vermeintliche Selbstverwirklichung der weiblichen Protagonisten vorführt. Es ist ein Roman über das Scheitern, über Verluste von Liebe und Illusionen, über Rückfälle. (In der nächsten Auflage sollte aber der Gulliver-Vergleich (S. 348) korrigiert werden.)
Lukas Hartmanns Sprache, dezent und doch deutlich, gibt dem Wichtigen Raum, deutet lediglich an – wie die mögliche Affäre Gerhards mit der Institutssekretärin – was im Umfeld geschieht.
Hartmann ist ein präziser, fesselnder Erzähler, folgt keiner Masche oder schriftstellerischen Serie. Seine Bücher sind Unikate. Wir haben ihn schon mit „Bis ans Ende der Meere“, „Finsteres Glück“ und „Räuberleben“ vorstellen dürfen. Ein Gewinn und eine Empfehlung an unsere Leser.
 
Der Mensch, der nicht Mitmensch ist, ist Unmensch.
Karl Barth
 
Lukas Hartmann – „Ein passender Mieter“
© 2016 Diogenes Verlag, 363 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag – ISBN 978-3-257-06967-9
24,- € (D) / 32,- sFr / 24,70 € (A)
Weitere Informationen:  www.diogenes.ch