Was im Leben wahrscheinlich ist

Sinnfragen

von Lars von der Gönna

© Heiko Sakurai
Was im Leben wahrscheinlich ist
 
Ihre bislang dunkelsten Abschnitte verdankt meine Biografie Vormittagen zwischen dem 12. und 18. Lebensjahr.  Genauer: dem Mathematikunterricht. Nichts verstand ich.  Alles ein Rätsel. Alles? Es gab Ausnahmen. Kleine Freuden  bereitete mir die Geometrie. Sie hatte den Vorteil, daß der  Zirkel zum Pieksen von Mädchen taugte, die man nett fand.  Auch die Wahrscheinlichkeitsrechnung war mir zunächst  unwahrscheinlich sympathisch. Mittels dieser ließ sich ermitteln, wie wahrscheinlich Dinge eintraten. Das gefiel  mir. Und bei manchen Sachen war ich zu 100 Prozent sicher, daß sie eintraten. Heiligabend zum Beispiel. Oder  eine Fünf in Bodenturnen. Es kam in der Klassenarbeit  aber leider anspruchsvoller: „Wenn man in der Tasche acht  grüne und drei rote Murmeln hat, wie wahrscheinlich ist es, daß man beim ersten Mal eine rote zieht?“ Das Problem  war, daß ich meine roten Murmeln am Vortag gegen ein  Jupp-Derwall-Sammelbild getauscht hatte. Derwall kam in  den Formeln, die ich gepaukt hatte, nicht vor. Auch der  Gaußschen Normalverteilung war ]upp fremd.
Das ist lange her. Und doch hat mich die Wahrscheinlichkeitsrechnung mehr als einmal eingeholt. Da hörte ich, daß  es wahrscheinlicher sei, vom Blitz getroffen zu werden als  sechs Richtige zu haben. Dagegen waren sechs Richtige wiederum wesentlich wahrscheinlicher, als im Meer von einem  Hai verzehrt zu werden. Mich als bodenständigen Westfalen hat das verunsichert. Blieb ich im Bett, traf mich kein  Blitz. Badete ich im Meer, konnte ich keinen Lottoschein  ausfüllen. Eine Gleichung mit Unbekannten. Ob Gauß das  gewußt hat? Ich halte es für relativ wahrscheinlich.       
 
 

© Lars von der Gönna - Aus dem Buch „Der Spott der kleinen Dinge“
mit freundlicher Erlaubnis des Verlags Henselowsky Boschmann und der WAZ.