Ermordet, aus Herz und Kopf vertrieben

Über den Schriftsteller Georg Hermann

von Dorothea Renckhoff

Vignette zu Jettchen Gebert

Ermordet, aus Herz und Kopf vertrieben:
Georg Hermann

Schildkröte schnappt zu


7. Oktober 1931: eine Flut von Glückwünschen aus ganz Europa strömt dem Schriftsteller Georg Hermann zum 60. Geburtstag ins Haus. Die Zeitungen würdigen ihn als jüdischen Fontane; mancher Kritiker stellt ihn höher als Thomas Mann. Sein beliebtester Roman – ‘Jettchen Geberts Geschichte’ – hat weit über hundert Auflagen erreicht und ist noch immer ständig vergriffen. Hermann zählt zu Deutschlands populärsten, ja geliebtesten Schriftstellern.

Doch in Jubel und Ehrungen mischt sich ein böser, drohender Ton: auch der Völkische Beobachter hat einen Geburtstagsartikel vorbereitet, eine geifernde Hetztirade gegen den Schriftsteller und seinesgleichen. Denn Hermann denkt linksliberal, er ist Jude, er ist überzeugter Antimilitarist. "Eines schönen Tages wird die Schildkröte schon zuschnappen," prophezeit das Nazi-Blatt. Mit dieser Art von Intellektuellen wird man aufzuräumen wissen.

Ein Jahr später wird die Drohung direkter, persönlicher: die Kehle wird man ihm durchschneiden, kündigen die Heidelberger Nationalsozialisten an. Hermann hat jahrelang am Neckar gewohnt und ist erst kürzlich in seiner Heimatstadt Berlin zurückgekehrt; der Haß ist ihm gefolgt.
Hermann bleibt nicht lange an der Spree. Sofort nach dem Reichtagsbrand geht er ins Exil nach Holland. Seine Bücher wandern in Deutschland auf den Scheiterhaufen; eine Neuauflage seines Romans ‚Kubinke’ wird, druckfrisch, in 125 000 Exemplaren eingestampft. „In welch eine wahnsinnige Welt bin ich durch meine Geburt hineingeraten," kommentiert er 1935, "und welch eine zehnmal wahnsinnigere Welt verläßt man!“


Heinrich Zille - Illustration zu "Kubinke"

Die Welt, in die er bei seiner Geburt als Georg Borchardt am 7. Oktober 1871 hinein geriet, war die des neu gegründeten deutschen Kaiserreichs. Eine Zeit des Umbruchs mit der Möglichkeit zu rasantem geschäftlichem Aufstieg, raschem Gewinn. Eine Zeit des schnellen Wachstums, wo mancher in den Strudel zu gewagter Spekulationen geriet und plötzlich vor einem Scherbenhaufen stand. Georgs Vater war unter den Opfern dieser Gründerzeit, einer von denen, für die der Boom direkt in den Bankrott führte. "Wir sind plötzlich arm," erinnert Georg sich später und benennt die Fassadenkultur jener Jahre: "So war unser Leben: ein paar Säulen und Schmuckstücke, die voraussetzungslos in der Luft hingen und eine Lebenssicherheit markierten, die auf nichts mehr begründet war."

Der kaum sechsjährige Junge mußte zusehen, wie der Vater in Schuldhaft genommen, wie die Möbel gepfändet wurden. Dem finanziellen Zusammenbruch folgte bald auch der körperliche; der Vater erlitt einen Schlaganfall. Er hat sich nie wieder erholt und starb, als Georg 18 Jahre war.

Geprägt von diesem Scheitern versagte Georg auf der Schule, versagte als Lehrling in einem Krawattengeschäft, brach während der Militärzeit mit Lungenentzündung zusammen und wurde vorzeitig entlassen. Seine fünf älteren Geschwister hatten Erfolg, machten Karriere. Einer der Brüder, Archäologe, grub als Expeditionsleiter bei Tell-el-Amarna die Nofretete aus. Georg dagegen war arbeitslos. "Hockte stellungslos bei der Mutter herum." Konnte nicht einmal fehlerfrei, kaum leserlich schreiben.
Er hat es Zeit seines Lebens nicht richtig gelernt. Als bekannter Autor wußte er sich später zu helfen, entführte bei jedem Besuch im Ullstein-Haus eine Sekretärin aus den Redaktionsbüros und diktierte die Endfassung seines neuesten Romans. Doch der junge Mann mußte den Kampf mit Rechtschreibung und Interpunktion noch ganz allein und ohne fremde Hilfe aufnehmen. Was aber bringt einen Legastheniker dazu, ausgerechnet Schriftsteller zu werden?

"Der letzte Grund des Schreibens ist ein Abreagieren von Schmerzempfindungen, vielleicht sogar ein Ableiten von Selbstmordgedanken bei mir gewesen," bekennt er später. Und mit seinem ersten Roman beschwört er den prägenden Kummer seiner Kinderzeit: "Spielkinder", 1897 erschienen und voll autobiographischer Züge, beschreibt "das harte Leben und bittere Sterben der hoffnungslos Unterliegenden." Das Leben und Sterben seines Vaters. Das ist fortan sein Thema, und von jetzt an schreibt er unter dem Vornamen des Vaters: Hermann.
Dabei sucht er bald nach neuen Ausdrucksmitteln, belegt Kurse an der Universität, beschäftigt sich drei Jahre mit Kunstgeschichte, um sich "das Gefühl für die Dinge zu erschleichen – mit dem überkommenen Blut alter Trödler, Seidenfabrikanten, Juweliere und zeichnerisch begabter Liebhaber in mir."

Es gelingt ihm, als Kunstkritiker bei den Ullsteinblättern Fuß zu fassen; er veröffentlicht mehrere Bücher, eines über seinen Freund, den Maler Max Liebermann. Von den ersten Honoraren beginnt er, nach und nach die alten Möbel aus der elterlichen Wohnung zurück zu kaufen. Biedermeiermöbel, auf denen noch die abgekratzten Siegel der Pfändung sichtbar sind. Und während er Stück für Stück das Ambiente um sich rekonstruiert, in dem schon seine Großeltern gelebt haben, trägt er gleichzeitig die Bausteine zu dem Roman zusammen, der ihn berühmt machen soll. Länger als ein Jahr beschäftigt er sich mit der Biedermeierzeit, sammelt Kunstgegenstände und Kuriositäten, geht über jüdische Friedhöfe, entziffert die Inschriften auf alten Grabsteinen.

1906 erscheint "Jettchen Geberts Geschichte". Man vergleicht den Roman mit den 1901 herausgekommenen ‚Buddenbrooks’ – aber "Jettchen" wird mehr geliebt. Es wird in viele Sprachen übersetzt und als Operette vertont (‚Wenn der weiße Flieder wieder blüht’), wird verfilmt, von Hermann selbst dramatisiert und ist auf Jahre das von deutschen Theatern meistgespielte Stück. Selbst Krieg und Revolution halten den Siegeszug von "Jettchen Gebert" nicht auf: es ist zum Lieblingsbuch einer Generation geworden.

Das liegt nicht allein an der nostalgischen Liebe der Leserschaft zum biedermeierlichen Genrebild. Nachdem Hermann 1908 mit "Henriette Jacoby" seinem Jettchen die von vornherein geplante


Jettchen Gebert
Fortsetzung gegeben hat, folgt bald eine ganze Schar von Nachahmern mit eigenen Biedermeier-Romanen. Sie finden ihr Publikum, aber keiner erreicht auch nur annähernd die Wirkung von Hermanns Jettchen. Denn diese Geschichte einer schönen Jüdin aus großbürgerlicher Familie ist mehr als eine traurige Liebesromanze aus idyllischer Zeit. Durch ihre unglückliche Beziehung zu einem armen Literaten wird das Mädchen sich der Sehnsucht nach eigenem geistigem Leben bewußt: "Jettchen Gebert" ist die Geschichte eines gescheiterten Emanzipationsversuchs. Und während zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts die Suffragetten für die Rechte der Frau auf die Straße und ins Gefängnis gehen, erkennen unzählige Frauen sich in diesem Jettchen wieder, diesem Mädchen, dem der Ausbruch mißlingt, weil es seiner liebevollen Familie nicht weh tun will.

Güte, zeigt Hermann, kann zur tödlichen Falle werden. Vor allem für eine Frau, die zur Opferbereitschaft oft schon erzogen wird. Er selbst nutzt diese Eigenschaft später konsequent aus: eine seiner drei Töchter aus erster Ehe führt ihm nach dem Tod seiner zweiten Frau den Haushalt. Sie muß nicht nur die kleine Stiefschwester erziehen, sondern auch den Reigen wechselnder Freundinnen akzeptieren, die der charmante Vater ins Haus holt. Doch nach einigen Jahren löst sich das Mädchen, geht nach Dänemark, baut ein eigenes Leben auf. Kein Jettchen-Schicksal also im Hause von Jettchen Geberts geistigem Vater, kein Opfer zwischen getupften Mullgardinen und zierlichen Biedermeier-Stühlen.

Der von ihm selbst entfesselten Biedermeier-Schwärmerei des Lesepublikums hat Hermann inzwischen längst den Rücken gekehrt. Anstatt auf der Erfolgswelle weiter zu produzieren, wendet er sich anderen Figuren, anderen Zeiten zu. Nur der Blickwinkel bleibt derselbe:
"In diesem Augenblick reißt an der Wasserstelle ein Löwe eine Antilope nieder. Andere sehen den Löwen; ich, solange ich denken kann, nur die Antilope," bekennt er. Immer steht er auf  der Seite der Opfer, gleich, ob es sich um Jettchen handelt, in ihrem Schutenhut mit den silbergrauen Bändern, um den Friseurgehilfen Kubinke, oder um Rosenemil, den Zuhälter. Völlig unsentimental erzählt er die Geschichten dieser Opfer: "Ganz ruhig bleiben" ‚ befiehlt er sich selbst als Autor: "Die Andern müssen die Tränen in die Kehle kriegen!"

Über zwanzig Romane sind es geworden, bis er im Exil nach und nach verstummt. Im Gegensatz zu anderen Emigranten kann er noch fünf Bücher veröffentlichen, doch die Auflagen sind winzig, der Verdienst gleich Null. Nach 1936 geht nichts mehr.
Sein Gesundheitszustand verschlechtert sich rapide. Ein Verlöschen des Lebens in Elend und Krankheit ist bis dahin der furchtbarste Tod gewesen, den er sich vorstellen konnte, "langes Siechtum, das alles widerruft, was uns das Leben geboten hat". Doch die Wirklichkeit ist furchtbarer. Denn jetzt schnappt die Schildkröte zu.

1943 wird der zweiundsiebzigjährige, schwer herz- und zuckerkranke Mann aus dem Ghetto in Amsterdam von den Nationalsozialisten ins Durchgangslager Westerbork gebracht und im November auf den Weg nach Auschwitz geschickt. Der Transport mit 995 Menschen trifft am 17. November in Birkenau ein; 531 Personen werden kurz nach der Ankunft in der Gaskammer ermordet. Unter ihnen Georg Hermann.
Zu diesem Todestag bleiben die deutschen Medien stumm,  auch, als er sich zum fünfzigsten Mal jährte, wurde des einstigen Lieblingsschriftstellers der Deutschen so gut wie nicht gedacht: auch im Bewußtsein der Leser ist er von den Nazis vernichtet worden. Nur einzelne Titel aus seinem reichen Werk sind über den Buchhandel erhältlich, in den meisten Bibliotheken kaum mehr. Eine vom Verlag Das Neue Berlin in den Neunzigerjahren begonnene Gesamtausgabe wurde ‚mangels Nachfrage’ nicht komplettiert, die bereits erschienenen Bände wurden verramscht. Georg Hermann ist nicht nur ermordet, sondern darüber hinaus verurteilt worden, ‚unvorhanden und stumm’ zu bleiben, bis heute und vermutlich darüber hinaus.

Und doch hat dieser Autor auch und gerade heute Wesentliches zu sagen. Aufregend die Romane, in denen er das Berlin von Gründerzeit und Jahrhundertwende beschwört, das explosive Wachstum zur Millionenstadt. (‚Spielkinder’, ‚Kubinke’ und ‚Rosenemil’). Da zeichnet  er eine vor Unternehmungsgeist berstende Stadt, da ist man beim Erstbezug der begehrten Altbauten von heute mit dabei. Und denkt man an die Baukräne über der Stadt nach der Wende, so erscheint Hermanns altes Berlin plötzlich unheimlich vertraut: Eine Stadt in einer Zeit des Umbruchs mit allen Möglichkeiten zu rasantem Aufstieg, raschem Gewinn. Da berührt die Metropole von damals sich mit der modernen Großstadt, auch der von heute, und nicht nur mit der Großstadt Berlin.

Und wieder lenkt Georg Hermann den Blick auf die Opfer einer solchen Zeit, auf all jene, die nicht wendig, nicht dynamisch, nicht rücksichtslos genug sind, um sich nach oben tragen zu lassen. Deren Existenz mit einem Schlag ein Scherbenhaufen ist. Deren Leben plötzlich in der Luft hängt, am Rand der Gesellschaft, ohne Arbeit, ohne Freunde, vertrieben nicht nur aus der Wohnung, sondern aus allen Lebensgewohnheiten.
Und dann geht man aus dem Haus und sieht plötzlich, zwischen den glitzernden Fassaden smarter Bürogebäude und schicker Geschäfte, überall Figuren von Georg Hermann. In Kleidern von heute, aber in den Schicksalen, wie er sie ohne Pathos und umso ergreifender gezeichnet hat.

© Dorothea Renckhoff - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008