60 Jahre NRW

von Konrad Beikircher

Foto © Frank Becker

60 Jahre NRW
 
Also langsam geht mir dieses Jubiläumsgetue mit den 60 Jahren Nordrhein-Westfalen wirklich auf den Zeiger. Als wäre dieses Bundesland ein x-beliebiges, vergleichbar mit Bayern oder Rheinland-Pfalz oder was. Und als wäre dieses Bundesland innerhalb der europäischen Union eben doch nicht mehr als ein kleiner Teil einer Republik, vergleichbar mit den Marche oder der Mancha. Was für eine Verkennung der Tatsachen! Was für eine Rufabschneiderei! Nordrhein-Westfalen war und ist die Wiege Europas, ein Europa im Kleinen, sozusagen das Modell dafür, daß es geht. Und so was feiert man doch nicht ‘klein-klein’, sondern das hat doch ganz Europa euphorisch zu begehen, oder?!
 
Wo in anderen Bundesländern und Ländern ethnische Einheitsöde vorherrscht: in Bayern gibts eben nur Bayern, in Hessen nur Hessen, in Bremen nur Fisch und in Sachsen, Gott behüte!, nur Sachsen, in Italien nur Ital-iäner, in Frankreich nur Wein, in Portugal nur Schlafmützen und in Irland nur Kelten, willse machen,  war das in Nordrhein-Westfalen immer schon anders. Hier haben sich Rheinländer, Niederrheiner, Selfkanter, Nordeifeler, Sauerländer, Bergische, Siegerländer, Ruhrpöttler, Lipper, Münsteraner und Ostwestfalen im Rahmen einer gigantischen Wohngemeinschaft zu einer Einheit zusammengeschmiedet, die einmalig ist auf der ganzen Welt. Diese Gegensätze! Diese Harmonie! Wie sagte schon unser verehrter Landesvater, Johannes VIII., nobler Sprößling unseres seit Jahrhunderten angestammten Herrscherhauses, anläßlich der Neueinweihung der kgl.-apostolischen Niederlassung unseres Landes in Berlin: „Die Stärke Nordrhein-Westfalens liegt in der einmaligen Kombination der Eigenschaften seiner Völker: der Zuverlässigkeit des Rheinländers, der Leichtfüßigkeit des Westfalen und der Großzügigkeit des Lippers.“ Wie schön, daß dank des männlichen Nachwuchses in der Herrscherfamilie für Kontinuität an der Spitze unseres schönen Landes gesorgt ist!
Nun aber mal ganz von vorne: schon vor ca 1100 Jahren hatten sich die 11 Initiatoren der WG NRW in der Soester Börde (die damals noch Sose hieß) getroffen, um mit heiligem Eid einander die Treue zu schwören:
„Ben zi bena, bluot zi bluoda, lid zi geliden, sose gelimida sin!“.
Dies war der berühmte Eid Werpes, benannt nach dem damals noch unbedeutenden Protokollanten der Eidesformel, in dem auch die Urfassung des rheinischen Grundgesetzes enthalten ist, als ehernes Konstitutivum der WG NRW. Es sind sogar noch einige Namen dieser Recken der ersten Stunde erhalten: Adi Nauer (als kölscher Experte für Sibirien), Pinkus Müller (als Erfinder der Weitwurffrikadelle Obmann der Verteidigungskräfte), Weyers Will (als Erstliberaler dafür zuständig, jedem recht zu geben), Bodel Schwingh (als Beauftragter für die geistige Höherlegung der damals sich noch nackt rasierenden Westfalen), Werpes Ant (als Beauftragter für die aus sanitären Gründen notwendig gewordene Tieferlegung des Niederrheins), Hein Lübke (als sauerländische Stimmungskanone, was jede WG braucht, falls es mal dicke Luft geben sollte),  Müllers Aap (als Garant dafür, daß sich keiner zum Schiedsrichter aufspielt, andernfalls...!) und  - kurioserweise ein Exil-Ire, den es als zurückgebliebenen Begleiter der von Sachsen gemeuchelten Hl. Brüder Ewaldi in die WG-Sitzung verschlagen hatte - Mill O`Witsch (als außenpolitischer Garant für die Harmlosigkeit der WG NRW). 
Diese acht Recken und drei weitere, deren Namen wir nicht wissen, haben in unendlicher Weitsicht den Rahmen geschaffen, der bis heute unser Bundesland zum kleinen Modell-Europa hat werden lassen. Sie schufen die 5 Artikel des rheinischen Grundgesetzes :
I.   Et es wie’t es
II.  Et kütt wie’t kütt
III. Et hätt noch immer jot jejange
IV.  Wat fott es, es fott
IVa. Kenne mr nit, bruche mr nit, fott domet
V.   Wat soll dä Quatsch
Sie schufen den Elferrat, als ewige Erinnerung an die Väter der WG NRW und integrierten das damalige Wahrzeichen der Westfalen, die Pappnas, zum hohen Abzeichen dieses ehrwürdigen Rats. Sie machten das von allen gleichermaßen ungeliebte Düsseldorf zu ihrer Hauptstadt, als ständige Aufforderung zu Toleranz und Selbstüberwindung, zwei Eigenschaften, ohne die eine Gemeinschaft auf Dauer nicht lebensfähig ist.
So entstand peu à peu das, worauf wir heute mit Recht stolz sind: unser Nordrhein-Westfalen.
 
Weitsicht und Hilfsbereitschaft - um nur zwei Beispiele zu nennen - kennzeichnen uns und unser Land. Haben wir nicht nach dem Desaster des zweiten Weltkriegs freiwillig und gerne dem darbenden Engländer geholfen, indem wir ihm unsere Maschinen aus den Fabriken des Ruhrgebiets zur Verfügung stellten? War das nicht weitsichtig? Konnten doch nur so in den 50er Jahren neue Technologien mit Maschinen, die absolut up to date waren, unsere Arbeitsplätze und unsere Prospektivität sichern! War es nicht weitsichtig, 1949 dem Grundgesetz zuzustimmen um so auch die anderen Bundesländer in die - vor allem finanzielle - Solidarität mit dem Ruhrgebiet einzubinden? Ich sage nur: Kohlepfennig! War es nicht hilfsbereit, nach dem Fall der Mauer dem Land Brandenburg langjährig erprobte Beamte aus unseren Beständen für den Aufbau zur Verfügung zu stellen? Hatten doch nur so junge, dynamische Kräfte die Chance, in unseren Behörden Karriere zu machen! War es nicht weitsichtig, durch sanften Druck auf Helmut Kohl darauf hinzuwirken, daß Berlin wieder Regierungssitz wird? Wird es doch erst so möglich sein, Bonn seiner alten Bestimmung wieder zuzuführen: Altersruhesitz für verdiente Regierungspensionäre zu sein, wie vormals Bad Godesberg, das heutige Bonn 2 (oder doch: Bonn-sai?).
Von der inneren Harmonie der einzelnen WG-Mitglieder untereinander ganz zu schweigen.
Wie froh ist heute der Ostwestfale darüber, daß er jahrzehntelang ohne Förderung als Entwicklungsland gehalten wurde. Wo wären denn all die schönen Wiesen und fetten Weiden, die sein Auge leuchten lassen und seine Lungen weiten? Wäre der Papst wohl nach Paderborn gekommen, sähe es dort aus wie in Neu-Isenburg? Wie froh ist der Niederrheiner über die damalige geographische und geistige Tieferlegung, hat er doch nur so das nebelige Feuchtbiotop erhalten können, dessen er zur Fortpflanzung bedarf! Und spräche heute noch einer vom Ruhrgebiet, wenn nicht sorgfältig getimte Zechenstillegungen immer wieder das mitleidige Auge (und den entsprechenden Devisenfluß) auf es gezogen hätten? Hätte jemals der Selfkant und sein Drumherum sich als Euregio Europa geöffnet, wenn nicht die Baggerdinosaurier der RWE ihre Zähne gefletscht hätten? Ja, manche WG-Mitglieder muß man eben mit sanftem Druck zu ihrem Fortschritt zwingen, wohl wahr. Keiner wüßte heute von der Not münsterländischer Kälbermäster, hätten nicht sportbewußte Pharmakonzerne versucht, auf diesem Wege der Gesamtbevölkerung Ana- und Diabolika, muskelbildende Hormone und medaillenbringende Substanzen zu verabreichen. Zugegeben, ein etwas drastischer Weg, aber doch ein effektiver.
 
Dies alles war nur möglich, weil in selbstverständlicher Brüderlichkeit die Frage nach der Solidarität nie gestellt werden mußte, so natürlich ist  der Zusammenhalt unter den nordrhein-westfälischen Familienmitgliedern.
Einer der Gründe dafür ist natürlich die einmalige, wunderbare Harmonie der Landschaft unseres Landes.
Wie hat das doch die hehre Elberfelder Heimatdichterin Eleonore Terstappen-Verhülsdonk ausgedrückt:
„Von Minden bis Schleiden,
von Höxter bis Goch
die Welt tut’s uns neiden
aber schön ist es doch“.
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. So laßt uns im Schulterschluß gegen die böse Welt (ich sage nur: Sachsen, Hessen, Bayern...) den Geburtstag unseres Landes so feiern, wie es dem Geiste des Eides der Soester Börde entpricht, laßt uns unserer Landesmutter zurufen:
„Heidewitzka, Herr Kapitän,
och do wo’t wieh dät
wor et immer schön !“
und in rheinischer Bescheidenheit und westfälischer Ausgelassenheit dieses Jubiläum würdig begehen eingedenk des hehren Wortes von Hein Lübke, der damals in der Soester Börde den Gründungsmitgliedern zurief:
„Das freie Wort schlägt Brücken unter uns von Mensch zu Mensch!“. Jawoll. Und so soll es bleiben.
 
In diesem Sinne
Ihr
Konrad Beikircher
 
Redaktion: Frank Becker