Der alte Mann 10

von Erwin Grosche

Foto © Frank Becker

Der alte Mann  10
 
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren. Die Sonne schien, und Paderborn zeigte sich von seiner besten Seite. Sie eilten durch den Schildern. Der Hund zog an der Leine, als hätten sie gerade die Fleischerei Müller überfallen und wären nun auf der Flucht. „Langsam, langsam“ bettelte der alte Mann, „ein alter Mann ist kein D-Zug.“
Der Hund blieb an einem Laternenpfahl stehen und markierte ihn. Der Marktplatz war sein Revier. 
„Sagt man das eigentlich immer noch „Ein alter Mann ist kein D-Zug?““, fragte sich der alte Mann.
Eine junge Frau, die ihr Fahrrad neben sich herschob, schaute ihn verwundert an. Hatte er wieder mit sich selbst gesprochen?
„Ich fragte mich gerade, ob man noch das Sprichwort „Ein alter Mann ist kein D-Zug“, kennt“, sagte er schnell. Die junge Frau lachte und stieg auf ihr Fahrrad.
„Natürlich“, sagte sie. Sie hatte Sommersprossen auf der Nase und trug ihr Haar kurz.
„ „Ein alter Mann ist kein D-Zug und eine alte Frau kein Kanapee“ sagte meine Oma immer“, dann nahm sie Schwung und rollte zur Stadtbibliothek hinunter. 
Der alte Mann dachte nach und ließ sich von seinem Hund zum Paderquellgebiet ziehen. Woran erkennt man eigentlich, daß man alt geworden ist? Auf welche Anzeichen mußte man achten, um nicht von diesem Ereignis völlig überrascht zu werden? Im Paderquellgebiet traf er seinen Freund Alfred, der dort Enten fütterte, obwohl es verboten war. Der Hund war ins Quellbecken der Warmen Pader gesprungen und kühlte sich ab. Der alte Mann kam gleich zur Sache. „Alfred“, sagte er, „du bist doch schon alt. Erzähl mir doch mal woran man erkennt, daß man alt geworden ist?“
Alfred verdrehte die Augen. Er fühlte sich noch nicht so alt, wie er aussah, aber erkläre das mal einem Jüngeren, zumal sie nur zwei Jahre voneinander trennten.
„Wenn du bei Herrn Weyher eine Buchstabensuppe löffelst, in der die Buchstaben ganz groß sind, damit du sie noch lesen kannst, dann wirst du langsam alt“, sagte er schließlich. „Es gibt noch deutlichere Anzeichen. Wenn der Fleischer dir wieder umsonst eine Scheibe Wurst entgegenhält und du deine Lesebrille suchst und du sie nicht mehr ohne Lesebrille findest.“
Der Hund kam aus der Warmen Pader gesprungen und schüttelte sich. Das Wasser spritzte von ihm ab und funkelte in der Sonne. Der alte Mann nickte.
„Du bist alt, wenn dir jeder ungefragt sagt, daß du dich überhaupt nicht verändert hättest und dieses „überhaupt nicht verändert“ dir dabei ganz laut und ganz langsam ins Ohr geschrien wird“, sagte Alfred.
Der alte Mann nickte.
„Und man erkennt, daß man alt geworden ist, wenn man als Frau bei Klingenthal fragt, „Haben sie Kleidung, die zu meinem Alter paßt“ und die Verkäuferin einen dann in die Abteilung für Faltenröcke schickt.“
„Und wenn man Witze macht, die so alt sind, daß sie noch nicht mal Herr Linnemann lustig findet“, konterte Alfred, „dann bist du alt.“
Der alte Mann sah nun diesen Lebensabschnitt deutlich vor sich.
 „Wenn du auf dem Frühstückstisch mehr Medikamente stehen hast als Marmeladengläser“, legte er los. „Wenn man wieder die Suppe schlürfen darf und alle froh sind, wenn man sich mal über eine Stunde beschäftigen konnte ohne zu klagen. Wenn man nicht mehr vom Sohn gefragt wird, ob man auf dessen nächster Party Platten auflegen möchte, obwohl man alle CDs von Helene Fischer hat. Wenn es sich nicht mehr lohnt, einen jungen Hund anzuschaffen oder eine junge Freundin. Wenn einem im eigenen Körper alles weh tut, außer dem, was ganz kaputt ist. Wenn man endlich für die Brücke schreiben darf und man dort Leser findet, die einen wirklich verstehen. Wenn man nicht mehr beim Sackhüpfen mitmachen darf und auch nicht beim Barkley Marathon. Wenn man nur noch Sprichwörter benutzt, mit denen kein Mensch mehr etwas anzufangen weiß, und keiner mehr die Menschen kennt, von denen man gerade Geschichten erzählt, dann bist du alt, dann bist du sogar uralt.“
Der alte Mann hatte sich so in Rage geredet, daß Alfred und sein Hund ihn erstaunt ansahen.
„Langsam, langsam“, sagte Alfred schließlich. „ein alter Mann ist kein D-Zug.“
„Und eine alte Frau ist kein Kanapee“, sagte der alte Mann und ließ sich erschöpft auf eine Parkbank nieder. Und dann lachten beide ein wenig, was in Paderborn schon ein gutes Zeichen ist und eine ausgezeichnete Stimmung beschreibt. 
 
 
© 2016 Erwin Grosche