Die Drei von der Haltestelle

von Karl Otto Mühl

Die Drei von der Haltestelle
 
Es ist keine Geschichte, und ich will auch keine Geschichte daraus machen. Trotzdem kommt er mir dieser Morgen abenteuerlicher vor als jede erdachte Story Aber der Reihe nach:
 
Frühstück am Samstagmorgen mit meinen Freunden. Wir sitzen in einer Bäckerei, deren Gastraum sonst reichlich besucht wird. Heute sitzt nur ein Orthopädie-Vertreter, der öfter kommt, an einem runden Tischchen, und dann kommt ein Mann mit kantigem Gesicht dazu, den ich auch kenne. Er war irgendwas bei der Diakonie, und irgendjemand hat mir zugeflüstert, daß er der „Mann fürs Grobe“ gewesen sein. Vielleicht war er das, denn er kommt immer allein zur Frühstückszeit, und darum macht er für mich den Eindruck eines Geschiedenen.
„Frühstück bei Tiffany“, ruft er mir zu. Ich glaube, er hält uns für Leute, die ständig glücklich und immer einer Meinung sind. Wahrscheinlich ist er meistens allein und meint, die anderen hätten es richtiger gemacht als er. Vielleicht würde ich in seiner Situation auch so denken.
Der Orthopädie-Mann berichtet mir über mehrere Tische hinweg, daß sein Sohn Mathematik und katholische Theologie studiere, er will Sonder-Pädagoge werden. Mich reitet meine Angriffslust und ich antworte, bei diesen Studienfächern könne man nicht ausschließen, daß er einen schwierigen Vater habe. Der Orthopädie-Mann stimmt mir sofort zu. „Stimmt absolut“, sagt er.
 
Es hat uns geschmeckt. Wir fahren im Wagen eines Freundes zurück. Er läßt mich an der Kreuzung einer steil ansteigenden Straße aussteigen, damit ich meinen obligaten Morgenspaziergang absolvieren kann.
Eine matte Sonne mischt ihr Licht in den diesigen Morgen. Meine Straße, eine Durchgangsstraße, ist fast menschenleer. Auf der anderen Straßenseite geht ein alter Mann mit Stock, der mir oft begegnet.
Auf meinem Weg liegt ein abgebrochenes Stück eines morschen Astes. Es ist wunderschön verkrustet, mit bröckelnder Rinde, blendend hellen Bruchstellen und federleicht. Das Ausdörren hat es leicht gemacht.
Ich hebe es auf und nehme es mit. Natürliche Dinge können beständig schön bleiben, selbst im Verdorren und im Untergang.
 
Ich bin erst einige hundert Meter gegangen, da sehe an der Bus-Haltestelle drei wunderliche Gestalten auf den drahtgeflochtenen Sitzen – alle vielleicht um die Siebzig. Alle mit einfältigen, freundlichen Gesichtern, und alle Drei strecken mir die Hände entgegen: „Eine Spende! Bitte!“
„Was sind Sie?
„Flüchtlinge“ sagt der rechts. „Er sagt „Fliechtlinge“.
„Das glaube ich nicht.“
Der links Sitzende grinst verdächtig. Das alles macht mich neugierig. Sind es Alkoholiker? Heim-Insassen? Ich stelle mich vor die drei und beginne mit Fragen. Was sie sind, wo sie wohnen, ob sie gearbeitet haben …
 
In der Mitte sitzt eine Frau mit hellen, blonden Haaren und rundlichem, kindlichen Gesicht. Sie lebt von der Grundsicherung und wohnt in einer nahegelegenen Seniorenwohnung. Der links hat einige hundert Meter entfernt eine Eigentumswohnung. Sein Vater hatte eine kleine Firma. Der rechts Sitzende wiederum ist Ukrainer, wohnt in der Nähe, lebt von der Grundsicherung, ist schon fünfundzwanzig Jahre in Deutschland.
Sie treffen sich fast jeden Morgen hier, sagt mir der Wohnungsbesitzer. Manchmal kommen auch andere hinzu. Eine Parallelwelt, denke ich. Wie eines Todeslandschaft, die gleichzeitig ein Land der Freiheit und der Angstlosigkeit ist, stelle ich mir diese Welt vor.
Die rundgesichtige Frau war einmal verheiratet und hat eine Tochter. Und jetzt ist sie alt, arm und allein und sitzt hier in der Morgenkühle vor mir.
 
Die Drei machen mir Angebote. Sie wollen auf mein Fahrrad aufpassen, meinen Hund ausführen, meine Treppe putzen. Ich habe weder Hund noch Fahrrad, sage ich, was sie unbewegt zur Kenntnis nehmen. Ich käme öfter hier vorbei, füge ich hinzu.
Oh, dann würden sie aufpassen. Sie würden mich bestimmt bemerken. Dann könnten wir weiterreden.
Alle Drei blicken mich fröhlich und neugierig an.
Ob ich sie für mein Album fotografieren darf? Nein, das hätten sie nicht so gern, sagt der Linke.
Ich gebe den zweien mit Grundsicherung jeweils zwei Euro, den Eigentumsbesitzer spare ich aus. Ich habe auch nicht mehr Kleingeld. Dann gehe ich weiter. Für eine Weile komme ich mir vor, als käme ich von einem anderen Stern.
 
           
© 7/2016 Karl Otto Mühl