Der alte Mann 9

von Erwin Grosche

Foto © Jan Belger / pixelio.de

Der alte Mann 9
 
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren. Es war zu kalt, selbst für einen April, und er trug seinen Wintermantel und einen Schal. Sein Hund sprang vor ihm her. Er kannte den Weg, und als sie die Straße hinter sich gelassen hatten, lief er frei herum, auch wenn dort Leinenzwang herrschte. Sie standen auf dem Monte Scherbelino. Sie waren die Treppen zum Kreuz hochgegangen, weil man von dort den schönsten Überblick über die Stadt hatte. Die Sonne drängelte sich durch dunkle Wolken hervor und tröstete die Ungeduldigen. Der Monte Scherbelino war eine Hügellandschaft am Rande von Paderborn, die nach dem Krieg aus den Trümmern der zerstörten Stadt aufgebaut worden war. Hier befanden sich nun Sportplätze, Kinderspielflächen und andere Freizeitmöglichkeiten, die von Familien und anderen Gruppen wahrgenommen wurden. Am Wochenende sah man auch Hundefreunde, die ihre Hunde miteinander spielen ließen und den Joggern zuwinkten.
Der alte Mann trottete seinem Hund hinterher, der schon auf dem großen Hundespielplatz angekommen war, wo bisher nur ein Junge seinen Drachen steigen ließ.
Er blickte auf das Zementwerk, das Möbellager und entdeckte Schafe, die abgeschirmt vor dem Steinbruch weideten.
„Wie klein der Mensch ist im Angesicht der Welt“, murmelte er und schaute auf den Jungen, der ihn nicht zu sehen schien.
Er schloss die Augen und hörte seinem Hund zu, der den Drachen am Himmel anbellte.
Plötzlich kamen zwei Frauen aus dem Wald gelaufen, der den Platz umgab. Auch sie hatten Hunde dabei, von denen einer ein Mops war und ein anderer ein dänischer Vorstehhund. Bestimmt gehörte auch der Retriever zu ihnen, der gerade mit einem Kurzhaarcollie und einem Labradoodle auf seinen Hund zugelaufen kam. Die Hunde waren ein wenig zu groß, um die idealen Spielgefährten für einen Terrier zu sein, aber im Tierreich gibt es die sonderbarsten Freundschaften.
Die Frau kam auf ihn zu, gefolgt von ihrem Mops und fragte: „Sie wissen wo die Jäger sind?“ Der alte Mann stutzte. Er kannte weder die Frau noch irgendwelche Jäger. Er lachte ein wenig, als hätte die Frau einen Scherz gemacht. Der Mops sprang an ihm hoch und knurrte. Die Frau fragte noch einmal: „Meine Freundin mit dem Labradoodle erzählte mir, sie wüßten, wo die Jäger sind.“
Der alte Mann schüttelte den Kopf. Öfters wurde erzählt, daß am Monte Scherbelino Jäger herumhingen, die darauf achteten, daß alle Hunde angeleint waren. Er hatte sogar gehört, daß die Jäger mit ihren Gewehren herumschossen und auf keinen Rücksicht nahmen. Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß von keinen Jägern“, sagte er, „sonst würde ich das beichten.“
Die Frau gab sich mit seiner Antwort nicht zufrieden, pfiff ihren Mops zu sich und nahm ihn an die Leine. „Und wo sind sie gewesen?“, fragte sie vorwurfsvoll. Der Mann verstand die Frage nicht.
Er blickte seinem Hund hinterher, der gerade von dem Kurzhaarcollie und dem dänischen Vorstehhund gejagt wurde.
„Wo soll ich schon gewesen sein?“; sagte der alte Mann. „Ich war doch hier.“
Die Frau zog ihren Mops hinter sich her, der noch gerne weiter den alten Mann angeknurrt hätte und sagte beim Weggehen. „Ich kann das jetzt nicht erklären. Sie verstehen das sowieso nicht.“
Der alte Mann schüttelte den Kopf. War das ein Gespräch gewesen? Warum hatte die Frau gefragt, wo er gewesen war? Hatte sie ihn nicht gesehen? Er war doch da, oder war er vielleicht während großer Teile seines Weges unsichtbar und tauchte erst wieder auf, wenn ihn jemand anschaute? Seine Freundin Dorothee hatte ihm heute noch erzählt, daß ihr Mann immer kleiner werde. Er schrumpft, hatte sie ihm anvertraut, und bald ist er nicht mehr da. Konnte das sein? War er selbst schon am Verschwinden?
Er wollte gerade nach seinem Hund rufen, als er bemerkte, daß dieser schon hechelnd vor ihm lag.
„Bin ich vielleicht ein Jäger?“, fragte er seinen Hund. „Kann es sein, daß viele den Eindruck haben, ich komme aus dem Nichts und verfüge über Botschaften von Tarngesellschaften wie Jäger und Feen?“
Sein Hund bellte. Er wollte nach Hause. Es gab solche Tage, da war man verschwunden und andere Tage, da wollte man verschwinden. In Paderborn ist beides möglich.


© 2016 Erwin Grosche